Federico García Lorca: Zigeuner-Romanzen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Federico García Lorca: Zigeuner-Romanzen

Lorca-Zigeuner-Romanzen

ROMANZE VON DER SCHWARZEN PEIN

aaaaaaaaaaaaaaaaaFür José Navarro Pardo

Nach der Morgenröte suchend,
grübeln spitz der Hähne Hacken,
während Soledad Montoya
niedersteigt vom dunklen Berge.
Gelbes Kupfer ist ihr Fleisch,
riecht nach Pferd und riecht nach Schatten,
ihrer Brüste Amboßhörner
die vom Ruß des Rauchs gebeizt,
seufzen runde, dunkle Lieder.
,Soledad, nach wem nur suchst du,
ganz allein, um diese Stunde?‘
,Mag ich suchen, wen ich suche,
sag mir doch, was kümmert’s dich?
Möchte suchen, was ich suche,
meine Freude und mich selbst.‘
,Soledad du meiner Sorgen,
wenn das scheu gewordne Pferd
stürzt am Ende hin zum Meer,
dann verschlingen es die Wellen.‘
,Mußt mich nicht ans Meer erinnern,
denn das schwarze Herzeleid
sprießt aus der Olivenerde
unter dem Geraun der Blätter.‘
,Soledad, welch eine Pein!
Welch erbarmungswürdge Pein!
Weinst, ja weinst Zitronensaft,
von Geschmack, vor Harren sauer!‘
,Welche große Pein! Ich renne
wie im Wahnsinn durch mein Haus,
beide Zöpfe übern Boden,
von der Küche zum Alkoven.
Welche Pein! Ganz zu Gagat
werden Kleider mir und Fleisch.
Meine Hemden, ach!, aus Leinen!
Meine Schenkel, ach! Aus Mohn!‘
,Soledad, wasch deinen Leib
mit der Lerchen klarem Wasser,
und in Frieden laß dein Herz,
laß es, Soledad Montonya!‘

*

Unten singt im Tal der Fluß:
Kräuselsaum aus Laub und Himmel.
Und es kränzt das neue Licht
sich mit Kalabassenblüten.
Pein, o Leiden der Zigeuner!
Reine Pein und immer einsam.
Pein verborgnen, dunklen Rinnens
und schon lang vergangnen Morgens!

 

 

 

Nachwort

Gleißende andalusische Mittagssonne, sengende Hitze, die die Umrisse verwischt und impressionistische Felder entwirft, die von Kalkmauern umgrenzt sind, vor denen sich die grauen Figuren der Feldarbeiter bewegen. In der Nähe eines Bauernhofes ein kleines Wirtshaus. Von draußen ist kein Laut zu hören, drinnen leise Stimmen, ein kurzes Lachen. Im Hintergrund ein junger Mann, der zu seiner Gitarre greift und das Ay! des andalusischen Cante anstimmt. Es vergehen die Minuten, das Essen wird uns gebracht, und plötzlich geht es uns wie eine Erleuchtung auf: Der Tagelöhner singt Verse, die wir schon unzählige Male gelesen haben, aus Lorcas Zigeunerromanzen:

Und ein Pferd, zu Tod verwundet,
klopfte laut an alle Türen.

Die Überraschung ist so groß, daß wir fast glauben, uns getäuscht zu haben. Der Sänger hat eine Pause eingelegt, um einen Schluck zu trinken, dann fährt er in seinem spröden und stolzen Gesang fort:

In den großen Spiegeln schluchzen

und wir nehmen ihm in Gedanken die folgenden Zeilen vorweg:

Tänzerinnen ohne Hüften.

Ohne Zweifel, es ist die Romanze der Guardia Civil:

Doch die Stadt war ohne Furcht
und vervielfacht’ ihre Tore.
Vierzig Guardias Civiles
dringen durch sie ein und plündern.

Jetzt brechen Gesang und Musik schroff ab, und ohne jeden Übergang folgt ein ganz anderer Rhythmus; wir hören ein wohlbekanntes spanisches Volkslied. Wir würden den Sänger gern fragen, ob er weiß, von wem die Romanzenverse stammen, die er eben hier, 80 km von Fuente Grande gesungen hat, wo ihr Autor, Federico García Lorca, 1936 von den Faschisten erschossen wurde. Jedenfalls, denke ich bei mir, hätte es den Dichter tief gefreut, wenn er seine Verse im Gesang des Volkes gehört hätte, während einer Ruhepause nach der harten Arbeit in diesem glühenden Andalusien. Vor kurzem sprach ich mit einem kubanischen Dichter voll Bedauern darüber, daß Lorcas Stimme in unserer Zeit der Tonband- und Filmaufnahmen nicht festgehalten worden war und daß es nach einigen Jahren niemanden mehr geben würde, der sie in seinem Gedächtnis bewahren würde. Aber als, wir jetzt die Verse aus seinen Zigeunerromanzen hörten, begriffen wir, daß seine Stimme im stolzen Gesang seiner Landsleute fortlebte, gegen diejenigen, die ihn ermordeten und gegen das Vergessen.

Der Zigeunerromanzero – er erschien 1928, als Lorca dreißig Jahre alt war, und machte ihn zum berühmtesten Dichter Spaniens – bleibt bis heute eines der wesentlichen Gedichtbücher unseres Jahrhunderts. Als Lorca in seinem heimatlichen Granada an den Romanzen arbeitete, schrieb er in einem Brief an seinen Dichterfreund Jorge Guillén, daß er mit ihnen die Absicht verfolge, „das Zigeuner-Mythologische mit dem gar Gewöhnlichen unserer Tage in Einklang zu bringen … Ich möchte erreichen, daß die Bilder, die ich von den Typen entwerfe, von diesen verstanden werden, daß sie Visionen der Welt sind, daß sie lebendig sind, und ich möchte auf diese Weise die Romanze fest und dauerhaft machen wie einen Stein.“
In diesem Buch der Romanzen – zuvor waren das Libro de Poemas (Gedichtbuch, 1921) und die Canciones (Lieder, 1927) erschienen −, typisch granadinische Dichtungen, in denen sich die traditionellen Formen des Volksliedes mit einer assoziativen Bildsprache verbinden, entfalten sich alle Möglichkeiten der modernen Metapher, ihre Fähigkeit, Sinneseindrücke zu verschmelzen, die Natur zu beleben, Ursache und Wirkung zu vertauschen, Reales zu entgrenzen, Gegenstände und unbeseelte Wesen zu personifizieren, um einen Anreiz auf die Einbildungskraft des Lesers auszuüben. Zum anderen gestattet die Wahl eines spezifischen Bauprinzips, der Rückgriff auf die traditionellste aller spanischen poetischen Formen, auf die Romanze, den Erzählvorgang zu raffen, Ellipsen zu schaffen und den Leser anzuhalten, die im Gedicht entstandenen Lagunen zu füllen. Darüber heißt es in einem Vortrag, den Lorca Anfang der dreißiger Jahre über die Zigeunerromanzen hielt, der aber erst zu Beginn der siebziger Jahre wiedergefunden und publiziert worden war: „Die typische Romanze war immer eine Erzählung, das Erzählerische verlieh ihrer Gestalt ihren Zauber; denn wenn sie lyrisch wurde, ohne das Echo einer Anekdote zu haben, verwandelte sie sich in ein Lied. Ich wollte die erzählerische Romanze mit der lyrischen verschmelzen, ohne daß sie an Qualität verlieren, und das habe ich in einigen Gedichten des Romanzero erreicht, etwa in der Somnambulen Romanze, wo das Anekdotische stark zu spüren ist, wo eine starke dramatisch geladene Atmosphäre vorherrscht und niemand weiß, selbst ich nicht, was geschieht, denn das poetische Geheimnis ist auch für den Dichter ein Geheimnis, der es vermittelt, aber es oft nicht kennt.“
Mit dem Zigeunerromanzero wurde Lorcas lyrisches Werk zum Gemälde einer kollektiven Geschichte. Er entstand am Vorabend der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die zur Ausrufung der zweiten Republik in Spanien führten. Selbst die Zeitform der Ereignisse ist so vereinfacht, daß alles auf die Unmittelbarkeit eines mythologischen Zeitraums reduziert wird. Der Charakter des fait divers und seine Kreislaufstruktur vermitteln allen Themen eine absolute Evidenz und verwandeln sie in Haftpunkte einer zeitlosen Geschichte. Lorca sagte darum im selben Vortrag über seine Romanzen: „Das Buch als Ganzes ist, auch wenn es Zigeunerromanzero heißt, das Gedicht Andalusiens, und ich gebe ihm den Namen der Zigeuner, weil die Zigeuner das Höchste, das Tiefste, das Aristokratischste meines Landes sind, das Repräsentativste in ihrem Sein, in dem die Glut, das Blut und das Alphabet der andalusischen und universellen Wahrheit bewahrt ist.
Das Buch ist ein Bild Andalusiens mit Zigeunern, Pferden, Erzengeln, Planeten, mit seiner jüdischen Brise, mit seiner romanischen Brise, mit Flüssen, Verbrechen, mit der vulgären Note des Schmugglers und der himmlischen Note der nackten Kinder von Córdoba, die sich über Sankt Raphael lustig machen. Ein Buch, in dem das sichtbare Andalusien kaum zum Ausdruck kommt, sondern wo das erzittert, was man nicht sieht. Es ist antipittoresk, antifolkloristisch, Antiflamenco. Es gibt in ihm nicht eine einzige kurze Weste, keine Torerotracht, keinen flachen Hut noch eine Schellentrommel; in ihm dienen die Figuren einem tausendjährigen Hintergrund, und es gibt nur noch eine große und dunkle Figur, die Pein, die ins Mark der Knochen und in den Saft der Bäume dringt und die nichts mit Melancholie noch mit Sehnsucht noch irgendeinem Kummer oder Seelenschmerz zu tun hat, sondern mehr ein himmlisches als ein erdhaftes Gefühl ist: andalusische Pein ist ein Kampf des verliebten Verstandes mit dem Geheimnis, das ihn umgibt und das er nicht begreifen kann.“
Eine der achtzehn Romanzen hat die schwarze Pein direkt zum Thema, während neun auf den Augenblick konzentriert sind, in dem der Tod naht oder bereits eingetreten ist. In dieser Form beherrscht eine kollektiv oder individuell gelebte Tragödie die Atmosphäre dieses Teils des Buches. Die restlichen acht Romanzen besingen Stufen der Lebensfreude: die Romanzen auf die drei Erzengel – auf die drei Städte, die drei Lebensformen Andalusiens versinnbildlichen: Granada, Córdoba, Sevilla – sind festlich und leicht. Die Kraft des Eros durchdringt in ihrer ganzen Sinnlichkeit Preciosa und der Wind, „eine Zigeunerromanze nach einem von mir erfundenen Mythos“, wie Lorca selbst sie charakterisierte, in der die junge Zigeunerin vor dem Wind, dem „Satyr niedrer Sterne“ fliehen muß, der sie rauben will. Sie ist ebenfalls, eingekleidet in Symbole, die eine vielschichtige Interpretation erlauben, in der Zigeunernonne gegenwärtig. Die Romanze Thamar und Amnón hat ihren Hintergrund in der biblischen Tradition: Lorca erlebte aus eigener Anschauung, wie die Zigeuner und das andalusische Volk die Romanze von Thamar, von Altas Mares singen, wie sie ihre Erotik mit der Gegenwart des Mondes und anderen symbolischen Elementen vermischen, die das tragische Schicksal Amnóns vorausahnen lassen. Wohl eine der bekanntesten Romanzen ist Die untreue Frau geworden, die kühn in ihren Bildern, in der Verschmelzung der Sinneseindrücke ist und genau eine Haltung der Zigeuner trifft.
Die Romanze von der schwarzen Pein stellt auch im Aufbau des Buches, der eine organische Einheit schafft, einen Drehpunkt dar. Sie steht in der Mitte zwischen den Romanzen individueller und kollektiver Tragödien. Lorca kommt immer wieder auf sie zu sprechen: „Die Pein der Soledad Montoya ist die Wurzel des andalusischen Volkes. Es ist kein Gefühl der Angst, denn mit Pein kann man lachen, noch ist es Schmerz, der blind macht, denn niemals ruft sie Tränen hervor; sie ist ein sehnsüchtiges Verlangen ohne Gegenstand, eine heftige Liebe zu Nichts, mit der Sicherheit, daß der Tod (die ewige Sorge Andalusiens) hinter der Tür atmet.“
Lorca war der Auffassung, darin bezieht er sich auf Proust, daß nur die Metapher dem Stil eine Art Ewigkeit verleihen kann. Er sagte einmal, daß er auf die Frage, warum er in der Somnambulen Romanze gerade „tausend Tamburinen aus Kristall“, die den Morgen verletzten, geschrieben habe, antworten würde, daß er sie „in den Händen von Engeln und Bäumen“ gesehen habe. Um gleich darauf hinzuzufügen: „Doch weiter könnte ich dazu nichts sagen.“ Wir, seine Leser, müssen sie zum Klingen bringen, damit unsere Ohren sie wahrnehmen können. Das ist Lorcas Magie.

Carlos Rincón, Nachwort

 

Lorca – Tradition und Moderne

Federico Garcia Lorca schrieb seine ersten Gedichte im Winter 1916/17, also mit achtzehn Jahren. Schon 1921 erschien sein erster Versband Libro de poemas. Dieses Buch freilich war erst eine Etüdensammlung – wenn es auch bereits einige in tiefer Melancholie und subtiler Sprache versammelte Stücke wie „Dämmerung“ enthielt, und wenn sich in ihm auch die für Lorcas Antikatholizismus typische und später so oft bemühte Sentenz „Jeder Stein sagt: Gott ist sehr weit!“ befand.
Dennoch waren es erst zwei andere Sammlungen, die Lorca zu dem neben Juan Ramón Jiménez, Jorge Guillén und Rafael Albert wichtigsten Vertreter der neueren spanischen Lyrik machten. Und was das bedeutet, lässt sich erst darin ganz ermessen, wenn man sich mit Hugo Friedrich vergegenwärtigt, dass die moderne spanische Poesie wohl noch vor der französischen rangiert und somit die bedeutendste der Welt ist. Lorcas bemerkenswerteste Gedichtbände sind (abgesehen von den 1921 bis 1924 entstandenen und 1927 publizierten Liedern) die Zigeuner-Romancen (Romancero gitano) und die Dichtung vom tiefinnern Sang (Poema del cante jondo). An den Zigeuner-Romanzen schreibt Lorca 1924 bis 1928; an der Dichtung vom tiefinnern Sang 1921 bis 1922. Beide Bücher (obwohl die Zigeuner-Romanzen erst 1928 erscheinen und die Dichtung vom tiefinnern Sang sogar erst 1931!) entstehen also vor Lorcas Begegnung mit dem Surrealismus, jener Bewegung, die ihren Niederschlag dann in Dichter in New York findet, einem Werk, das während einer Amerikareise, in den Jahren 1929 und 1930, inspiriert wird. Einflüsse eines (allerdings schon wieder beruhigten) Surrealismus findet man auch in der 1934 konzipierten und im Jahr darauf publizierten Klage um Ignacio Sánchez Mejías, einem aus vier Teilen bestehenden Riesenpoem, mit dem Lorca seinem Freund, dem Stierkämpfer Mejías, einen Zenotaph errichtet. Ausser diesen Büchern stammt von Lorca noch ein unbedeutender Band Erste Lieder sowie eine Sammlung, die den Titel Der Divan beim Tamarit trägt. Alles in allem kennt man rund fünfhundert Gedichte.
Anders als die meisten modernen Dichter hat Lorca keine Poetik verfasst. Für ihn („… von uns Dichtern weiss keiner, was Dichtung eigentlich ist“) war Schreiben ein intuitiver und weitgehend ungesteuerter Prozess, bei dem es – wie bei der Musik – mehr auf Klang, Melodik und Form ankam als auf Botschaft. Das, was es zu sagen gab, war für Lorca ohnehin wenig; und es war immer dasselbe, es war das, was sich in der Sprache der Definitionen mit dem Wort Schmerz benennen lässt:

DORF

Auf dem kahlen Berg ein
Leidweg.
Klares Wasser,
hundertjährige Oliven.
In den Gässchen
Männer, die sich fest umhüllen,
auf den Türmen
Wetterfahnen, die sich drehen,
Ewig drehen.

O verlornes Dorf im
Andalusien des Wehs!

Garcia Lorca ist ein Lyriker von Weltgeltung, aber er ist zugleich ein Regionalist; ein Provinzialist. Seine Kunst wächst aus dem Boden und dem Geist Andalusiens, dieses südlichsten spanischen Landes, das Afrika bereits so nahe ist, und in dem sich die Mauren am längsten hielten. Dort in Andalusien (wo „Durch Oliven und Orangen / strömet der Guadalquivir“ und wo die Erde trocken ist und Christus afrikanisch-„braun“) erlebt Lorca im Besonderen das Allgemeine, im Zigeunerischen das Schlechthin-Menschliche, im Leid Spaniens das Leid der Welt:

Richter und Zivilgardisten
kommen durch die Oelbaumhaine.
Und es seufzt verglittnes Blut,
stöhnt ein stummes Schlangenlied.
„Meine Herrn Zivilgardisten:
hier geschah, was stets geschieht.
Vier der Römer sind gefallen,
fünf Karthager liegen tot.

Andalusien ist ein geschichtsträchtiges Land, es beherbergt die Ruinen und die Erlebnisreste vieler Kulturen, und es verschweigt mit seinem Sand die Gräber vieler Menschen und Völker.
Lorcas Poesie ist, mehr noch als die des jungen Alberti, folkloristisch, aber sie ist es nur zu einem gewissen Teil. Denn durch das Volksnahe und Volksliedhafte hindurch greift Lorca, der gleichermassen traditionalistisch und modern, geschichts- und zukunftsbezogen ist, auf etwas noch Aelteres, Archaischeres zurück: auf die metaphorische und hermetische Dunkelpoesie seines Landsmannes Gongora, der Jahrhunderte lang unverstanden blieb – bis die spanischen Poeten, wohl infolge ihrer Begegnung mit Mallarmé, in ihm nun plötzlich ihren Protagonisten sahen. So kommt denn in Lorcas Werk der Anstoss zum Modernen grossenteils aus der Vergangenheit; allerdings aus einer Vergangenheit, die älter ist als die Folklore des 18. und 19. Jahrhunderts.
Man hat festgestellt, dass Lorca kein allzu grosses lyrisches Vokabular hat. Das ist richtig. Wir haben es bei ihm sogar mit einer ausgesprochen kleinflächigen Begabung zu tun. Wenige Worte, Schauplätze, Begebenheiten und Empfindungen werden zu immer neuen – ähnlichen und doch anderen – Mustern zusammengestellt. Das Ausschliessliche und Ausschliessende, das Monomanische – hier wird es geradezu zum Kunstmittel, zum Stil. Benn hat einmal vom Zwang der Worte geschrieben, die, so und nicht anders, „aus dem Nichts“ zusammenströmen. Der Dichter ist also seiner Kunst gegenüber nicht frei. Er sucht sich Stoff (und Umfang und Beschaffenheit des Stoffes) nicht aus.
Von seinen Intuitionen her war Lorca naiv, aber in der Art, in der er Gefühltes und Erahntes verarbeitete, war er intellektuell. Das zeigt die Konstruktion seiner besten Gedichte, die nicht nach kausalen und chronologischen, sondern – wie etwa kubistische Stilleben – nach formalästhetischen Gesichtspunkten angeordnet sind. Zwar ist Guillén – der Dichter des „harten Jubels“, der aus Licht, Farben und Mathematizität geistige Wortgegenwelten zu den Städten „irr von Geometrie“ erbaut – hier noch konsequenter gewesen. Aber auch Lorca hat schon im „Cante jonde“ ein ausserordentlich intellektuelles Gedicht wie „Kreuz“ geschaffen, das überhaupt nicht mehr mit der Tradition korrespondiert, sondern – vor dem Surrealismus! – auf assoziative, ja gedanklich-kybernetische Möglichkeiten hinweist:

Das Kreuz.
(Schlusspunkt
des Weges.)

Es spiegelt sich im Rinnsal.
(Gedankenpunkte!)

Doch Lorca ist auch dort, wo er sich vom Sujet her anspruchsloser gibt, von konstruktiver Modernität. Das lässt sich von zahllosen Metaphernerfindungen ablesen:

Eines Schrei’s Ellipse.

Oder:

Ihre Schädel sind aus Blei,
darum weinen sie auch nie.

Oder:

Die zwei Flüsse von Granada
stürzen sich vom Schnee zum Weizen.

Poetisches Lieblingsmaterial Lorcas ist die Gitarre:

Seufzend gehn umher die Leute
mit weit offenen Gitarren.

Ein andermal ist von den „tiefinnern Wegen der Gitarre“ die Rede. Und an noch anderer Stelle heisst es:

O Gitarre!
Du Herz, das von fünf Schwertern
zu Tod verwundet

Das beste, das surrealste (und von Enrique Beck deshalb zu Recht mit der Malerei Juan Gris verglichene) Gitarren-Bild gelingt Lorca in den Zigeuner-Romanzen:

Konkreter Traum ohne Nord
aus dem Holz der Gitarre.

Das ist Sprache, die Montales Satz wahrmacht:

Keiner schriebe Verse, wenn das Problem der Dichtung darin bestünde, sich verständlich zu machen.

Notieren wir noch ein paar metaphorische Höhepunkte: „In den Kronen eines Oelbaums / weinen zwei uralte Frauen…“ – „Durch der Nonne Augen sprengen / im Galopp zwei kühne Reiter.“ – „Ihrer Brüste Ambosshörner, / die vom Russ des Rauchs gebeizt, / seufzen runde, dunkle Lieder.“ – „Kalt wirds Wasser, auf dass niemand / rühr an seine Unberührtheit“. – „… wo mein Körper ohne Adern / Rat sich holt bei eis’gen / Karten… wo im Traum des Wassers Rinder / schlürfen ein das schwanke Schilf…“. All diese Bilder stammen aus den Zigeuner-Romanzen. Aber es lässt sich auch anderweitig ebenso kühn Geschautes finden, vor allem in Dichter in New York:

Von damals meine Augen, von neunzehnhundertzehn,
die sahn die weisse Wand, daran die Mägdlein pissten…

Und in dem gleichen Gedicht heisst es:

… am Ort, wo der Traum mit seiner Wirklichkeit zusammentraf.
Dort meine kleinen Augen.

Der Dichter in New York ist Lorcas wortgewaltigstes und, während grosser Partien, künstlichstes Buch. Der Surrealismus hatte sich damals gerade in Paris ereignet, und die spanischen Dichter waren nun dabei, ihn nachzuholen. Sie erledigten es aber allzu gründlich – wie eine Schulaufgabe. So ähnelt denn auch der Dichter in New York – wie manches gleichzeitig von Neruda und Alberti – einem wuchernden Metapherndschungel. Die Bilder, die Einfälle folgen einer Automatik, die aus dem Bereich des Poetischen wegstrebt, und das um so mehr, je krampfhafter der Dichter sich bemüht, die Grenzen der eigenen Imagination zu überschreiten, indem er auf bewusste Selektionen verzichtet. Man kennt diese Phänomene von Breton und den schematischsten unter den Surrealisten her, und auch Lorca ist den Gefahren der unkontrollierten Wortreihung und Bildballung nicht entgangen. Trotzdem enthält der Dichter in New York – der heute als Ganzes nur noch wie eine sprachliche Lockerungsübung zu Klage um Ignacio Sánchez Mejías wirkt – neben vielen leuchtenden Einzelstücken einige vollkommene Gedichte, so vor allem das Poem „Tod“, das in formaler und thematischer Parabolik den Anfang in den Schluss münden lässt und so, in seinem Wandel von dem Ausruf „Welch Mühsal“ bis hin zu dem Fazit „ohne Mühsal“, zu einem einzigen unangestrengten pantheistischen Hohelied wird.

Hans-Jürgen Heise, Die Tat, 17.4.1964

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Rick Lupert: Federico García Lorca: Ziguenerromanzen
Instagram, 25.9.2022

 

 

Rudolph Kieve: Federico García Lorca, Merkur, Heft 44, Oktober 1951

Jorge Guillén: Federico García Lorca, Merkur, Heft 175, September 1962

Hans-Jürgen Heise: Ein Andalusier wie kein anderer

Hans-Jürgen Heise: Lorca zwischen Granada und dem Kulturbetrieb

Hans-Jürgen Heise: Die Mörder waren keine Zivilgardisten. Dossiers zum Tod Federico García Lorcas.

Peter Jungblut: Darum wird im Mordfall García Lorca nicht mehr ermittelt

 

 

FEDERICO GARCÍA LORCA

Ein Himmel aus Beton
ich hab dich
gesehen hinter jener Maske
aus feinem Tuch und
toten Fischen weißt du
verfällt dein Schrei der Sonne
die alles sieht verbrennt
zeugt von einem Anfang
zerschnittenen Venen
Honigschnee wachsende
Wunder verlierst du
nie taub für die Stimmen
lichter Wesen auf unsichtbarem
Flug in dein Geheimnis

Christoph Klimke

 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + Kalliope + UeLEX

 

Zum 25. Todestag des Autors:

Salomé Kestenholz: Federico Garcia Lorca
Die Tat, 19.8.1961

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Sylvia M. Patsch: Die Stimme aus dem Innersten
Die Furche, 4.6.1998

Zum 85. Todestag des Autors:

 

 

Zum 125. Geburtstag des Autors:

Jens Grandt: Das andalusische Genie
nd, 4.6.2023

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + ErinnerungenIMDb +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 1/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 2/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 3/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 4/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 5/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 6/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 7/7.

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