Felix Philipp Ingold: Echtzeit

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Felix Philipp Ingold: Echtzeit

Ingold-Echtzeit

HIMMELSKUNDE

Nicht wahr ist
das Haar der Berenike. Nike
wartet auf den Sieg
der sie einst selber war.
Vergebens. Ens
ist sächlich also auch nicht
wahrer. Klar erkennt man
das Design des
Bösen war schon immer
unsichtbar. Armada aber schön
in nächster Ferne. Sterne
nämlich die so stur die Ewigkeit
behaupten sind nichts anderes
als was. Fossiles
Licht

 

 

 

Nach all den Zeiten

unserer Welt- und Evolutionsgeschichte nun die Echtzeit, die garantiert nur in der Literatur existiert: eine Zeit des Spiels mit ernsten Gegenständen, das Gedicht als Spielfeld. In dessen Rahmen – und mit dem Leser als Gegner −, nach alten Regeln, entwirft der Autor seine verwirrenden Konstellationen. Wie liest man diese Gedichte? Wort für Wort. Man überläßt sich dem Rhythmus, verstolpert sich im Reim, lacht über Wortspiele, rümpft die Nase über Kalauer, denkt über Zitate nach, die einem aus anderen kulturellen Zusammenhängen vertraut sind; man wundert sich, daß nichts so einfach ist wie Gedichte lesen – und ist schon verloren.

Carl Hanser Verlag, Klappentext, 1989

 

Ingolds poetische Maschinerie

In einer Shredderanlage werden Autowracks mit großem Druck zusammengepreßt. Plattgequetscht werden sie zu unanständigen Sandwiches aufeinandergetürmt, oder sie verschwinden als kompakte Würfel im Recyclingbetrieb. Schrottknäuel: Das sollen noch Autos sein?

F.P. Ingolds Versgedichte sind vielfach gefaltete und verformte Wortknäuel. Zusammengeklaubte Phrasen und Bonmots, ehrwürdig Literarisches, elegant Gestyltes, eiskaltes Neudeutsch – was uns dröhnend um die Ohren saust oder uns als störendes Rauschen umgibt, alles wird von Ingold einer gewaltsamen Verdichtungsprozedur unterworfen: einzelne Wörter werden kräftig durchgeschüttelt (aus einem „Flaschenhals“ wird „falscher Schlaf“, oder es „geizt“ eine „Vorzeigeziege“) und daran anschießend werden Kalauer oder wilde Bildmontagen zusammengeschustert; ganze Satzteile oder Redewendungen werden knallhart durch einen Punkt auseinandergehackt und scheinbar überflüssige Partikel werden ausgesiebt; deutsch-französische und deutsch-englische Mesalliancen führen in heillose Verwirrung (schneien und „neigen“, „Eis“ und „eyes“); unterschiedlichste Inhalte, Formen und Rhythmen treffen aufeinander, werden auf Biegen und Brechen zusammengereimt, in kompakte und zugleich höchst disparate Versgedichtballen gepreßt.

Beim ersten Lesen verläßt einen bald der Mut. Man will sich eifrig ein (kohärentes) Bild machen und steht vor einem wüsten Bildsalat, oder aber man versucht kühl, mathematisch konstruierend den Geheimkode zu knacken: aussichtslos. Mit Echtzeit geht Ingold nun auch insofern an die Schmerzgrenze des Lesers, als er die Disparatheit gegenüber früheren Sammlungen steigert und nicht mehr, wie etwa noch in Unzeit, freundliche Hinweise auf anregende Quellentexte mitliefert. Und zu allem Überfluß vernetzt er sogar die einzelnen Gedichte durch quereinschießende Motive miteinander, so daß es nicht mehr möglich scheint, einen einzelnen Text für sich zu entschlüsseln und sozusagen Stück für Stück Ordnung in den Trümmerhaufen zu bringen. Die Gedichte ergänzen, stören, „lesen“ sich gegenseitig, und vielleicht sind sie ja alle selbst, als subversive Lektüren, aus einem einzigen verborgenen ,Sub-Text‘ abgeleitet? Durch die konsequente Auflösung linearer Zusammenhänge und die fortgesetzte Anwendung von Wortgewinnungsregeln auf die Ergebnisse eben solcher Regelapplikationen steigt in den Gedichten die Entropie: Man steht vor einem Informationschaos, das durch Modellentwürfe und binäre Ordnungsvorstellungen nicht mehr zu bewältigen ist (ein Gruß des Dichters geht übrigens an Oskar Pastior).
Wer aber Geduld hat, sich langsam von dem Zwang löst, Bedeutungszusammenhänge zu suchen und statt dessen die materielle Seite der Sprachmanipulationen genauer betrachtet, der kommt langsam immer wieder variierten Assoziations- und Wortspielketten auf die Spur (etwa: „Ei“ – „Eis“ – „eyes“ – „weiß“ – „schwarz“ etc.) und, den einzelnen „Perlen“ dieser Ketten zugeordnet, verschiedenen Themen: Kälte, Blick; Fotografie, Schrift, Apartheid… Das Wortmaterial entfaltet beinahe von allein eine expansive Dynamik; die thematischen Komplexe und die körperhaft-klangliche Seite der Sprache arbeiten einander auf vertrackte Weise in die Hände. Auch verfremdete Redensarten und Zitate, die interessanterweise meist mit der Thematisierung von Zeit zu tun haben, geben sich zunehmend zu erkennen: von banalen Sprüchen wie „steter Tropfen…“ bis zu Fausts „verweile doch“, vom „Zahn der Zeit“ (in „Mundwerk“) bis zu literarisch-pathetischen Zeitreflexionen wie barocken Sinnsprüchen („Meerschwein“), verschiedenen Rilkestellen („Klassisch der Held“) oder Rilkes Grabinschrift, die mit den virtuosen Wortspielweisheiten des Robert Desnos konkurriert („Rrose“)…
Das große Lesevergnügen besteht nun darin, daß man bei solchen Rekonstruktionen die lustvolle Deformierung der Floskeln, Formeln und Diktate wieder neu erlebt, und daß man als spielerisch-kreativer Leser schließlich in sich selbst einen „Autor“ entdeckt. Dabei steigert sich auch der Spaß am Vexierspiel. In einem Gedicht, das sich offenbar der Zukunfts- („Zunftkuh“-) „muh-muh. Sick“ widmet, könnte etwa mit dem Wort „sight“ an einer Stele die Frage auftauchen, ob es da um das Zerreißen einer (Geigen-) Saite, um das Herunterreißen eines Seidenstrumpfs oder einer Klarsichthülle – oder um eine Polemik gegen die Oberflächlichkeit der Augenlust und des „sight-seeing“ handelt.
Trotz dieser scheinbaren Beliebigkeit gibt es in Echtzeit thematische Schwerpunkte: neben der allgemein existentiellen Dimension des Zeitproblems etwa – wie auch der Titel des Buches andeutet – die Digitalisierung unserer Lebenswelt. Mit Blick auf Hard-Discs und Compact-Discs (weiß, eiskalt, spiegelblank), die in geschlossenen Kisten in Höchstgeschwindigkeiten rotieren und über die digitale Abtastung „Mega-„ und „Giga-“ Mengen verschlüsselter Informationen freisetzen, versteckt Ingold in seinen Gedichten eine Hommage an die „eingravierte“ Schrift und – an die Schallplatte (schwarz), in deren Zentrum bisweilen relativ gemächlich ein Hund um ein Loch kreist, und durch deren Rillen sich eine Nadel arbeitet, die auch die Spuren des Zahns der Zeit nicht rechnend überspringen kann. Zugleich überbietet Ingold mit seinen auf eine schroffe Art schönen Texten die informationsverarbeitende Potenz von Maschinen, die nur in O- und I-Zuständen und in logischen Wahrscheinlichkeiten denken können, durch sprachliche Gebilde, die dank der irrationalen Eigendynamik der Sprache einen „irren“ Komplexitätsgrad erreichen.
Was nun die kreative Zertrümmerungsarbeit betrifft, so denke ich, gerade in diesem vertrackten „Wahljahr“, gerade jetzt, wo man uns wieder einmal einreden will, daß wir dringend eine nationale Identität bräuchten, gerade jetzt, wo der Michels ich wieder tief in die Vereinsmeierei versteigt, Geldgeier einzig feist am Mieder der Geschi- gerade jetzt können wir Ingold poetische Maschinerie zur Phrasenleichenfledderei vielleicht besonders gut gebrauche.

Johannes Hauck, Süddeutsche Zeitung, 2.5.1990

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Heinz F. Schafroth: „Wozu Gedichte?“
Basler Zeitung, 25.2.1989

Daniel Weber: „Doch wessen Wahn und. Oder Sinn“
Neue Zürcher Zeitung, 27.10.1989

Michael Braun: Ironie, Idyllen, Illusion
Die Zeit, 8.12.1989

Harald Hartung: Nietzsche und Nitschewò
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.1.1990

Sibylle Cramer: Des Rätsels Lösung ist nicht wahr
Der Tagesspiegel, 15.4.1990

asr.: Felix Philipp Ingold: „Echtzeit“
Der kleine Bund, 4. 11. 1989

 

 

Jan Kuhlbrodt: Versuch über Ingold
poetenladen.de, 28.10.2012

Jan Kuhlbrodt: Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der Chronologie

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Ulrich M. Schmidt: Das Leben als Werk
Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2012

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Magnus Wieland: Der Autor, der die Autorschaft hinterfragt
Berner Zeitung, 25.7.2022

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