Felix Philipp Ingold: Jeder Zeit andere Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Felix Philipp Ingold: Jeder Zeit andere Gedichte

Ingold-Jeder Zeit andere Gedichte

GOTT

tut so gut wie nichts
als scheinen. Heisst wie alle
Namen. Ist für alles

kein Beweis. Strotzt
als immergrüner Richtblock
im Zentrum. Sirrt und

bleibt immer
dem Abschied voraus. Ist
in keiner Sprache

zum Schweigen
zu bringen. Wie der Schmerz
der fehlt.

 

 

 

„Es sind die strengsten Maßstäbe,

die Ingold an die Gattung Lyrik anlegt“, schrieb Michael Braun zu Ingolds vor zwei Jahren erschienenem lyrischen Diarium Auf den Tag. Genaue Gedichte. Die Sicherheit, mit der Ingold diese seine eigenen Maßstäbe erfüllt, ist bei diesen neuen Gedichten womöglich noch höher geworden. Wieder sind es knappe Strophenformen, meist Dreizeiler, und ihre semantische und syntaktische Verdichtung hat einen Grad erreicht, an dem sie in eine einleuchtende Unmittelbarkeit umspringt, die weit davon entfernt ist, das Flüchtige der Dichtung, das sich Entziehende vorschnell zu verraten.
Felix Philipp Ingolds immer als kompliziert und gelehrt geltende Lyrik hat eine Treffsicherheit des Ausdrucks erreicht, eine Knappheit, die den Lesenden sofort für sich gewinnt, die das Herz und den Verstand gleichermaßen erobern. Die prekäre Befindlichkeit unserer Existenz, die Flüchtigkeit von Subjekt und Anschauung sind die Elemente dieser Gedichte, und ihre Sprache ist von derselben prekären Verfassung: stolpernd, mit Auslassungen, sich korrigierend und ins Wort fallend. Die Leichtigkeit, die der Titel Jeder Zeit andere Gedichte suggeriert, ist eine vorgetäuschte: Schönheit ist eine Frage der Überrumpelung. Und ganz sicher hat F. Ph. Ingold in seinen neuen Gedichten der Schönheit und der Poesie erfolgreich eine ganze Reihe von Fallen gestellt!

Literaturverlag Droschl, Ankündigung, 2002

Dreizeiler, so gut wie immer

strophisch gegliedert in Triolen: klassisch, orthodox in dieser Dreieinigkeit – und uneins, unklassisch im Kurz- und Kleinschnitt der Filmschere, die durch die Zeilen schnipselt, das Unsägliche zurecht- und zunichte sägt: Wütend, liebevoll, kindisch-verspielt und letzterdings todernst immer wieder vom Blatt aufsehend, von den schneidenden Brüchen – hin zum immer wieder angespielten, anvisierten und letztlich unsäglichen Finale, für das alle die Namen nicht ausreichen, um es hin- und herzuschreiben vor der Zeit. Wie schreiben? heißt immer auch: Wie das Ende schreiben

Aage A. Hansen-Löve, Beizettel zum Buch

 

Gottchen, Zeitchen, Alterchen „Jeder Zeit“

– „andere Gedichte“ von Felix Philipp Ingold. −

„Ich“ heisst das erste Gedicht in Felix Philipp Ingolds neuem Band Jeder Zeit. Andere Gedichte. Es steht auf der Rückseite des Titelblattes, noch bevor die Sammlung eigentlich beginnt, wie ein aus lockerem Mauerwerk herausgefallener Stein. Herausgefallen und uns zugefallen. Also nimm ihn auf und lies! Aber anders als beim berühmten „tolle, lege!“ Augustins ist damit kein Schlüsselerlebnis verbunden. Um die eigene Biographie geht es Ingolds Gedichten nur in extremis. Es geht um ihr Ende, um das Verschwinden des Ichs. Als eine dritte Person geistert es noch durch die Gedichtzeilen: „Ich (übrigens) taumelt / noch ein Deutchen / weiter zwischen Stich und Pflicht.“ Der das schreibt, hat mit sich auf eine andere Art zu tun: Ingolds Ich ist die Sprache. Seine Lyrik ist keine écriture automatique, aber dass da noch ein anderer als er selber die Feder führt, ist offensichtlich. Ohne diesen anderen gäbe es die Gedichte nicht. Mehr als ein Werk in Worten sind sie das Werk der Worte. Von selber allerdings gibt die Sprache gar nichts her ausser Schweigen. Da muss dann doch einer sein, der sie aufscheucht und zum Reden bringt: „Schau!“, „Da!“ oder „Ach lass!“, sagt der Autor – zu den Lesern.
Dass die Gedichte in einem Schallraum leben, zeigt sich immer da, wo sie seine Mauern mit einem (freilich leisen) Knall sprengen: „Aber eigentlich / ist der Engel selbst die Naht. / Die Nacht wie sie eintritt und gilt.“ Der Schall überschlägt sich, die Assonanz überholt die Assoziation. Da kann der Autor kaum noch einen Fuss zwischen seine Verse setzen. Mit einem „und aber“ hängt er dann manchmal den nächsten an – ein fast stummer Einwand gegen den schnellen Lauf der Worte und der Dinge. Wir sind angesprochen, derweil das Ich sich schon wieder abmeldet: „geh fort von dort wo keiner war“, geht das „Ich“-Gedicht weiter. Wohin das Ich geht, sagt es nicht. Es könnte durchaus sein, dass es gerade mit diesem Abschiedsgestus vor uns auftaucht. „Nicht / zu haben aber im Verschwinden / da“, sagt Ingold vom Glück. Das kann auch für den gelten, den es sich aussucht. Dann nämlich, wenn ihm nichts mehr gelingt, öffnet sich ihm die Welt.

Immer ist der Wille
innen und an nichts erinnert
er. Viel besser ist was
er auslässt.

Das Gedicht leistet dazu die Vorarbeit: den Willen selber auszulassen, das Öffnen zu öffnen. Dann zeigt sich das Bessere, das er auslässt: die Frage zum Beispiel, „wem das Leben“ gehört. Dem Ich jedenfalls nicht. Vorherrschende Tageszeit in Ingolds Gedichten ist die Mittagsglut, nicht die Dämmerung. „Der Mittag hat / wieder die Mehrheit“, ein starkes, witziges Bild. Die Gedichte reden von der Dauer der Vergänglichkeit. „Immer nie“ lautet die Kurzformel. Da sind sie gewiss nicht die ersten.
Aber es gibt wohl nur wenige, die dies erstens so klaglos und zweitens so konsequent bis in die eigenen Strukturen hinein tun. Die Gedichte in dem Band bestehen aus kurzen dreizeiligen, manchmal vierzeiligen Strophen, die als formale Einheiten zwar Selbständigkeit behaupten, aber doch nicht als Hauptsätze daherkommen, die für sich stehen können. Dazu sind sie doppelt zu schwach. Retrospektiv sind sie in ihre Vorderverse verhängt, antizipatorisch stürzen sie sich in die nachfolgenden, oft genug kopfüber, torkelnd, stotternd. Aus dem Wortwerk wird ein Wortbruch, kein Stein bleibt auf dem andern zwischen Geröll und Groll:

Allzu fertig ist das
alles rasch. Ist
der Fall wer steht und
kann nicht
anders als begreifen.

Starke Worte, schwache Worte. Und Gedicht um Gedicht zieht schneller dorthin, „wo keiner war“. Uns steht bevor, was uns folgt; uns folgt, was uns bevorsteht. „Perfekt“, „Zuletzt“, „Postum“ heissen die letzten Gedichte des Bandes. Das Finale steht ja fest, aber es hat bei Ingold die produktive Kraft einer Quelle. „Nur Transparenz und / also Fest“ schliesst das „Ich“- Gedicht. Das Fest ist die Vitalität des Jetzt, der Augenblick der Ambivalenz, den das Gedicht zwar nicht beschreiben, aber doch bezeugen kann.
Das heisst sein Verschwinden anzeigen: „Zu lang / das Leben wenn’s glückt.“ Achtundneunzig Gedichte aus der Zeit zwischen Januar und Dezember 2001 umfasst Ingolds Band Jeder Zeit. Andere Gedichte. Jeden vierten Tag ein Gedicht. „Jederzeit andere Gedichte“ lässt sich der Titel auch lesen. Keines ist das letzte oder jedes. Keines das richtige oder jedes. Ingolds Gedichte sind Wiederholungen. Sie sagen alle das Gleiche, auch wenn sie das Gegenteil sagen. „Geviert“ heisst ein Gedicht auf der linken Seite. Auf der rechten, gleich gültig, seine Negation: „Negiert“. Das Gedicht hat seine Wahrheit nicht in der Übereinstimmung mit den Tatsachen. Bei Ingold aber auch nicht in Subjektivität oder Relativismus. Das Gedicht muss evident sein, unmittelbar einleuchtend – das mag erstaunen, wenn sie dann so vertrackt daherkommen wie diejenigen Ingolds. Aber Gedichte-Lesen heisst das Verlernen zu lernen. „Jederzeit andere Gedichte“ meint auch: Man soll sie nicht festhalten, ihr Tempo nicht brechen. Man soll mit ihnen laufen, sich mit ihnen wundern, als wären sie ein Märchenwald. Bis einem auf einer Lichtung dann so gnadenlos einfache Sätze erscheinen wie: „Der Tod hängt an dir“. Oder „Gottchen“, „Zeitchen“ und „Alterchen“. Fehlt nur noch das „Seelchen“ aus Kaiser Hadrians selbst verfasstem Epitaph „Animula vagula blandula“. Ingolds Gedichte zeichnet dieselbe Leichtigkeit, derselbe zärtliche Witz, derselbe kluge Mut aus, wenn es darum geht, dem Pathos des Lebens den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Samuel Moser, Neue Zürcher Zeitung, 8.1.2003

Ingold – In-Gold: Jeder Zeit andere Gedichte

Schon der Titel hat es in sich: Wie er so buchstäblich und typographisch dasteht, verspricht er Jeder Zeit – also egal welcher – andere Gedichte: Was der Obertitel ankündigt, bezieht sich auf ein „Immer“, das freilich nicht dasselbe, sondern jeweils ein Anderes verlangt – analog zur Losung der Wiener Secession: „Der Zeit ihre Kunst – der Kunst ihre Freiheit“, d.h. eine jede Zeit bekommt die Kunst, die sie verdient, die ihr entspricht. Eine jede Zeit ist eigen und macht daher andere Gedichte erforderlich.
Würde man dagegen die bei den Titelwörter zusammenschreiben, dann erhielte man ein Jederzeit andere Gedichte und damit eine etwas eitle Selbstanzeige des Autors, „jederzeit“, also mühelos und ohne Hemmung, immer „andere Gedichte“ auszuliefern: Anruf genügt.
Im ersten Fall siegt der Stolz des Autors: immer aber anders zu dichten; im zweiten Fall – die Ironie, gar nicht anders zu wollen, als anderes zu wollen und damit das Programm, den Kode jederzeit zu wechseln, dasselbe Gedicht auf Knopfdruck anders (lesbar) zu machen – oder eben nicht (anders). Gewählt hat Ingold die erste Schreib-Weise; mitbedacht die zweite.
Im Titel also steckt als Kippschalter für das Ganze die Ambivalenz zwischen Schrift- und Hörbild der Buchstaben und/oder Laute – wodurch erst das Flimmern zwischen unterschiedlichen Gliederungen bzw. Zuordnungen der Lettern, Wortglieder, Satzteile, Verszeilen, Strophenblöcke etc, möglich wird. „Divide et impera“ – so herrscht der Autor über seine Buchstaben- und Lautmassen. Der Blick springt vom letzten Wort der einen Zeile zum ersten der nächsten, während das Ohr stolpert, weil es das eine mit dem andern verbinden wollte – und umgekehrt. Schrift und Stimme treten gegeneinander an – bekämpfen einander unter tatkräftiger Mitwirkung des Autors, der alles andere als den Schiedsrichter spielt. Seine Lust am Text hängt an der Schrift, am Buchstabenbild, an den weißen Zwischenräumen, Zwischenzeiten. Zwischen den Zeilen tut sich der Text auf, der alles andere sein will als ein Libretto zum Singen und Stimmen. Und doch wehren sich die Stimmen, die Tonfälle und rhythmischen Gesten gegen den totalen „Umbruch“ im Druckbild, gegen die alles verschlingende Les-Art und die reine Augen-Weide.
Schon im ersten Gedicht, eigentlich als Vorspann und Motto seitenweise abgesetzt vom Buchtext selbst, begegnet dieser Widerstreit von Laut- und Schriftbild: der Zeilen-Sprung des Auges (hier markiert als „/“) und die Satzbrücke an ein und demselben Wort-Paar – steht so da:

geh fort von dort wo
keiner war.
Nur Transparenz und also Fest.
(Nullseite“)

In diesen 3 Zeilen und 12 Wörtern ist ja „in nuce“ alles schon angezeigt: der Mut zum Mini-Malen, zu Ver(s)-Schnitten und Brüchen im Satzgefüge – und eben das Spiel mit dem Doppelmedium der Wort-Bild-Kunst.
Die Hörbarkeit des Kalauers und die Sicht-Weisen des Anagramms treten derart gegen- und miteinander an – wenn es darum geht, die erste und direkte Wortbedeutung gegen die übertragene und konventionelle, erwartbare auszuspielen. Der Kalauer tut das eher durch Gleichklänge die Gleichsinniges provozieren – das Anagramm verklammert die Wiederholungsbilder von Buchstäblichkeiten, die sich – gegen den „Strich der Gedichtrede“ – durch die Graphembestände des Textes dividieren und umverteilen lassen. Das Minimum wird zum Optimum da, wo beide – Hör- und Schriftbild – einander werden und sich flimmernd überlagern.
Im Titeltext also, unter dem Namen „Ich“, markieren die OR-Motive in „fORT von dORT“ den „OR-igo“ des Dichtens also einen Ursprung im „Aut-OR“, der als Wort-Namen durch den gesamten Band hindurch allgegenwärtig und gleichzeitig (im) „nICHt“ verborgen bleibt. Was hier und im folgenden der Blockbuchstabe anzeigt, bleibt bei Ingold (un)scheinbar, also nur halb ver- und entborgen.
Die in allen Schriften des Autors wiederkehrende „und also“-Formel – eigentlich ungrammatisch und doch ganz klar- und einsichtig – komprimiert eine vergleichbare Gestik des Widerspruchsgeistes: zugleich „und“, also Konjunktion, Verbindung, Fortsetzung – und dann keine Und-Folge als Addition, Gleichordnung – sondern das erledigte „Also“: als Ergebnis einer Verbindung, eines Brückenschlags zwischen den Polen der ver- und entbundenen Wörter. Hier sind es die Ausdrücke: „Transparenz“ und/also „Fest“, die nicht nur gleichsondern auch nacheinander bzw. auseinandergesetzt werden. Dieser Widerspruch übersetzt sich in eine aus dem Verbalen stammende Bewegung – schließt das ab, was im ersten Satz der Gedichtformel behauptet wird: „geh fort von dort wo / keiner war.“ Logisch geht das ja nicht, von wo fortzugehen, wo keiner gewesen ist, da man doch selbst auch „einer“ ist, einer von den anderen. Wenn aber das Ich, von dem (aus) die Rede ist, zugleich immer auch das Nicht-Ich, also „nemo“ „keiner“ ist, dann programmiert diese Formel eine ganz andere Botschaft, die im übrigen den gesamten Band prägt und bebildert: Das Ich ist „keiner“, d.h. das Ich ist nicht(s)t: alogisch und a(na)grammatisch ist das ICH eingeschrieben, wortwörtlich und buch-stäblich im „nICHt(s)“ – so übrigens schon in der radikalen und verbalen Mystik eines Meister Eckehart, der sich ja der weißen Nichts-Mystik, dem Nichts-Sprechen als Apophatik einer „negativen Theologie“ ver-schrieben hat. Wo Ich ist – ist auch das Nicht nicht ferne – und das „L-ICHt“ nah. Im Nichts wie im Licht ist das Ich als Namen des Autors eingeprägt, aus dem sich der Gesamttext (alles Ingold) entfaltet. Der Dichter – auch ein Träger des Ich im Buchstäblichen seiner Rüstung – auch der D-ICHter ist ein „ICH-ter“ und „NICH-ter“: Er schafft, wie im zweiten „Satz“ zu lesen steht, die „Trans-parenz“, die das Geheimnis des Textes, seine Botschaft ins Buchstäbliche der Oberfläche verschiebt und dort – von der Seite, im schrägen, peripheren Licht-Einfall – sICHt-bar macht.
Was hier als „Transparenz“ durchsichtig wird und doch so faden-scheinig und schleierhaft, wie die apollinischen Texturen über dem Abgrund des Seins bei Nietzsche tritt als Opakheit und Scheinsicht (durch die Seinsschicht) in Konkurrenz zum Festen, dem Fix- und Fertigen. Das Gedicht als Gespinst des Ichs ist transparent, also durchsichtig, scheinhaft und undurchsichtig, also „fest“ zugleich. Das Gedicht ist als Transparenz Text und als Textur „firm“, zum Anfassen und ungreifbar in einem.
Zuletzt ist das „Fest“ nicht nur das Fundament, auf dem ICH mit bei den Beinen stehe – Statik und Evidenz zugleich: Das Fest(e) kann auch zu gleichen Teilen und genauso gut als Feier, als Festlichkeit firmieren und damit der „Transparenz“ beitreten „und-also“ als Gleichwertiges. Ver-schwunden von dem „Ort“, wo „keiner war“, also ein Topos der Transparenz und Un(an)greifbarkeit, in dieser Absenz eines schleierhaften Nichtseins triumphiert das „GedICHt“ als Durchscheinendes ICH – metamorph, also so gut wie verklärt/erklärt, wenn denn das Visionäre möglich und sagbar wäre. Es scheint so – bisweilen.
Das zum ersten Dreizeiler, der vor allem andern noch ohne Seitenzahl dasteht. Kursiv. Dann folgen Leerseiten und auf Seite 7 der erste Text mit dem toponymen Gedicht „Jurassisch“, das vom verklärten Horizont in die Privatgeographie des Autors umblendet.
Typographisch springt zuallererst die Dreiteiligkeit der Texte ins Auge: also Dreizeiler… vom Monostich bis zur vielteiligen Serie. Aber so gut wie immer strophisch gegliedert in Triolen: klassisch, orthodox in dieser Dreieinigkeit – und uneins, unklassisch im Kurz- und Kleinschnitt der Filmschere, die durch die Zeilen schnipselt, das Buchstäbliche zurecht und zunichte sägt: Wütend, liebevoll, kindisch-verspielt und letzterdings todernst, immer wieder vom Blatt aufsehend, von den schneidenden Brüchen – hin zum permanent anvisierten und nur nicht sang- und klanglosen Finale, für das alle die Namen nicht ausreichen, um es hin- und herzuschreiben vor der Zeit. Wie schreiben? – heißt immer auch: wie das Ende schreiben oder das „Ende“ des Dichters. Wie kann der Autor in der Ich-Form die Ziellinie passieren, ohne den Kopf zu verlieren; wie kann er – den Kopf verlierend – zugleich, (end)zeitgleich schreiben. Das war ja auch die Frage nach dem totalen Erzählen in Dostojewskis Prolog zu seiner Erzählung Die Sanfte – oder in Vladimir Nabokovs Roman Einladung zur Enthauptung – für Ingold nicht zufällig wieder und wieder aufgesuchte Leseweiden und Zitat-Zikadenfelder.
Schon im Einleitungstext steht das Präskript ganz unvermittelt vor der Erklärung seiner Einsatzpläne: das Goethe-Zitat (bzw. der Zitat-Goethe) zieht nach sich ganz unvermittelt die Bemerkung des permanent den Mytho-Poeten unterbrechenden Meta-Poeten: „Es ist hier heute / wie in einem früheren / Gedicht..“ „Hier heute“, das große „Hic et nunc“ bis hin zum „Hic Rhodos, hic salta“ und seiner höhnischen Zumutung des Jetzt-oder-Nie: genau dieses „Hier und heute“ gibt sich „wie in einem früheren Gedicht“ – und ist ihm damit sogleich erlegen, nachgeordnet, sekundär. Was lebt und wirklich „ist“, ist das Gedicht: Alles aber hängt an der „WIE-ge“ (oder Wage?) des kleinen „wie“, das erst ein großes wird im Verschwinden, wenn das Hier und Heute identisch wird mit dem Früher und Später und vor allem wenn „ES“ – das Leben – nichts anderes ist als die andere Seite, Avers zum Revers des Zitats, das so oft hervor- und weggewünscht wird als Eigentliches, dem Lebemann am Rücken haftet und dessen Namen den Rücken des Gedichts ziert.
Was dann folgt – im allernächsten Satz: ist schon „der Frühling“. Der darf aber nicht sein „blÜHendes“ Ü(ber)-Wesen treiben, sondern muß so gleich als Prügelknabe „all dies Grün … aus den … Hügeln“ – „prügeln“. Er prügelt ja nicht auf Frühlingswiesen ein wie der Dreschflegel aufs Korn, damit die Spreu vom Weizen falle, sondern er prügelt den „Wortschatz“, wenn ganz unschuldsvoll vom „Wortspatz“ die Rede ist, der „aus dem Gedicht herübertschilpt“: Das Gedicht hat seine eigene Ü-Realität (Hyper) und weiß doch, daß die Realia nur solange am Leben bleiben, wie sie im Gedicht geduldet werden: als Stichwortgeber, als tschilpende Spatzen, die – wie von Mandelstam bekannt – eine grundlose Fröhlichkeit versprühen.
Und noch ein Engramm, ein Eingeschriebenes: eben das kleine „ein“ – der unbestimmte Artikel einerseits und anderseits oder eigentlich ursprünglich das „Eine“, ja Ur-Eine, das dem Nullwort Nichts auf den Fuß folgt: digital oder kosmisch – „creatio ex nihilo“: Die Schöpfung schöpft aus dem Nichts und steht damit als „Eins“ unweigerlich an zweiter Stelle – die „Eins“ nach der „Null“, das weiche, weibliche „sEIN“ – nach dem harten, maskulinen, inspirierten /CH/ des spitzen, ragenden, phallischen „I-ch“. Das „I“ des Ich weist als strenger römischer Zeiger auf das „high noon“ des Zifferblatts: „Rist und Scheitel des gefällten // Riesen sind / wieder verEINt und / beschrieben als ein fetter // StrICH den tieferen // Süden..“ (der Doppelstrich // markiert immer die Strophengrenzen)
Eine Orgie von /EI/s und /IE/s – Paarung „ex ovo“ als Eines aus dem Ur-EI und aus dem vertikalen Adam Riese, der da steht vom Scheitel bis zur Sohle ganz „ein-s“ geworden als „ein fetter Strich“, der den Sti(e)l, den Stift, zu dem der Übermanns große vertikalisiert ist, von A bis Z ein-bindet, ver-einigt. Als EINS ist dieses Mannsbild der Erste, Erstgeborene: als Beschriebener aber kippt diese Vertikalität ins Horizontale – im Süden ein Strich zwischen Himmel und Erde: er zum Zweiten, wenn die Null aufgeht. „Ein Strich“ wäre irgendeiner – „ein Strich“ aber ist eben der Einzelne und sein Eigentum: Vom Nein zum Ein – und vom Einser zum immer schon zu spät gekommenen Sein.
Das ICH ist hier wie so oft zugleich beschrieben und ge- wie bezeichnet: Es steckt im „Str-ICH“, im Signans ist das Designatum versteckt – und zwar voll-ständig, ganz und immer. Oder wie es an Ort und Stelle heißt: „in diesem Gedicht.“
Schon der nächste Text führt das Heute als „heute“ in Anführungszeichen vor, eingebaut in eine rustikale Ausgansszene: „heute“ ist nur ein Wort, eben das Wort ,heute‘, dessen Verbalität mit der Erdigkeit des Grüngemüses überschüttet wird: „Ein solcher Tag reicht / vom Wort ,heute‘ / bis zum LattICHbeet.“ Der Tag – das namenlose Leben insgesamt – reicht textuell (als Beet) hin zum doppelt negativen Hintergrund des Namens („.. gibt’s kein Geräusch / das keinen Namen hat. Und / .. “). Bei Ingold steht ja – ganz in der Linie der gnostischen Poetik des Namens – eben dieser im Doppelzentrum der Ellipse (der weg- und ausgelassenen Rede): Name und vis à vis – Nichts. Und – wie im genannten Zitat oben das reine Zeilensprung-Wort (Trampolin zugleich zum „aber“ der nächsten Zeile) – „und / aber“ um diese beiden eliptischen Pole dreht sich alles: die Wörter, Texte, Rede-Wendungen und Les-Arten.
In diesem „.. und / aber..“ steckt nicht nur der Doppelumbruch von Satz- und Verszeile: es markiert auch Konjunktion und Adversion in einem Atem- und Schriftzug – daß nämlich alles stimmt und nicht-stimmt, daß es so und zugleich anders ist. (Andere Gedichte) Und daß vor allem die Pole ihrerseits kreisend ineinander umschlagen: Das Nichts wird namenhaft (also ein Niemand, „Nemo“, „Oudén“) und der Name nichtig – also „Namen-Los“. Wenn es „kein Geräusch“ gibt, „das keinen Namen hat“ – dann hat eben jedes Geräusch (s)einen Namen, während der Name selbst zum Geräusch verstummt, verrauscht: eben das „Rauschen„“ im Kanal – oder im Wald der Symbole, wo der einzelne Wort-Stamm (hier ist es der „A-horn“ – also ein auf A gestimmtes „Horn“) zugleich tönt und lauscht: „.. drüben lehnt / an der stehenden / Luft der der Ahorn / mit seinem löchrigen Gehör. Und dauert.“ Die Ahörner erklingen – wieder vertikal wie zuvor die Riesen (von Rist bis Scheitel): „.. und..“
Und dann kommen die vielen Bei-Spiele für gegenläufigen Wort-Sinn: wenn etwa „der Mittag… wieder die Mehrheit“ hat – oder „keine Tür… aus dem Haus geht“ („Siesta“). Da streiten die Wortwörtlichkeiten mit den Übertragungen um Senderechte und drehen sich – einmal mit der Innenseite, einmal mit der Außenfläche – dem Leser zu: glatt und verkehrt, direkt und indirekt, wörtlich und bildhaft, linear und invers. Die aus dem „Haus gehende Tür“ verlängert ihre eigene Wörtlichkeit in eine Szene: entfaltet sich und faltet ein ihre blindgenutzte Gebrauchsform (nach der etwas hinausgeht im Sinne von ,zu etwa führt‘..). Indem die Tür – also das Medium Durchschreitung – selbst Schritte ergreift und damit „aus Haus geht“, gerät alles aus dem Häuschen: der Ursinn blitzt im Unsinn auf – und macht sich davon.
„Aber nicht / das Neue ist die Kunst. In / Sch… In Stein… // In Stein ge- / gehauen lauter Schrrei! Schrille Gabe. Zi- / zwischen Ring- / und Mittelfinger lärmt / noch die Grille / von gestern..“ Was in Stein gehauen ist – das steckt in ihm als Ur-Schrei, ja es entwindet sich der widerwärtigsten Widerständlichkeit des Zeichen-Trägers auch ganz lautbildlich und ikonisch als Stotter-Rede, die sich im Zeilenbruch verfängt und spaltet: „In / Sch… In Stein…“. Es ist die Rede des Auf-Sch-Schubs, die an sich (selbst) leidet und das auch als „lauten Schrrei!“ herausbrüllt. Der Stein trägt den Namen als Denk- und Grab-Mal gemeißelt, als heilige Schrift, während der Schrei nicht bloß Wort bleibt, sondern als „Schrrei!“ seine unabhörbare Präsenz geltend macht. Und dann im „Schrei-n“ aufhebt und so zugleich löscht und bewahrt.
Das Onomatopoeticum ringt mit dem „ut pictura poesis“, das Prosodische, das Phonogramm einer „Rrrrede“ stellt sich dem Piktogramm seiner Buchstäblichkeit entgegen und durchkreuzt das Schriftbild – im Spalten der Zeilen, der Wortkörper, der B(r)uchstabenfolgen.
Was aber die „Grille“ anlangt, die im Zitat oben noch „lärmte“: die füllt bei Ingold – im Anklang an Mandelstams „Zikaden“-„Zitate“ – als geflügeltes Wort den Hinter- und Untergrund der Rede. Das aller Sekundärste ist das aller Primärste, das Vermitteltste einer Inter-Inter- und Metatextualität entpuppt sich – insektenhaft – als das Unmittelbarste und Evidente. Dem entsprechen die „Namen und Flüche“, die beide nicht mehr im Lexikon nachzuschlagen sind, sondern angeschlagen werden als direkte Sprechakte, verbale Attacken: „Statt Musik nur Flüche / und Namen“.
Neben dem Erhabenen des Allgemeinsten rückt unvermittelt das Allergemeinste ein: „Im Aschenbecher da! / , – ein Strünkchen / Karfiol.‘ Und / jetzt als monströser / Singular der Daumen. Dumm / nach unten.“
Wie in der „En-passant-Prosa“ des russischen Fragmentalisten Vasilij Rozanov das Erhabene und Allgemeine neben oder gar unter dem Allergemeinsten und Niedrigen, ja Schmutzigen zu stehen kommt, macht sich im Aschenbecher der Karfiolstrunk breit. Und verweigert sich seltsam der Deutung, da schon der Daumen neronisch-ironisch „nach unten„“ weist: Geste der Impotenz und Omnipotenz in einem – ein Total-Aus-Phall des Gliedes – oder ein Totalitätszeichen des Allmächtigen, der mit dem Daumen nach unten auch den Gladiator unter die Erde bringt. Oder das Gedicht samt Dichter verwirft: „Dumm / nach unten.“ Der Daumen wird „dumm“ gemacht, von seiner Singularität (hier sind wir wieder in der Achse der „Eins“-I vertikalisiert) und Monstranz zur „Monströsität“ verurteilt.
Auftritte dieser Einser-Mentalität und vertikalen Zurschaustellung maskuliner Potenz werden in diesem Gedichtverband systematisch „gekappt“, „nach unten“ gewendet, entmächtigt. Da wo die Zeiger (ihres Zeichens Finger-Zeige) schlapp machen und aus der „Eins“ nach unten klappen – schlägt es „Sechs“/„Sex“, wirkt die „Schwerkraft„ der Zeit („Zoff“) und das ewige „Scheitern“: „aber besser wär’s ja besser zu scheitern. / Also bloss die Welt / zu verlieren und niemanden sonst.“ – am wenigsten sich Selbst im Namen-Los. Hier schlägt es „Sex“ – andernorts „Acht“: die zentrale Zahl-Stelle der Ingoldschen Numerologie. Denn bei „Acht“ stehen wir in „Habt-Acht“-Stellung und zu der liegt die Horizontale „Acht“ quer: Graphem der „Ewigkeit“ – und als liegende Acht die Hochzeitsanzeige eines „Just married“ im Stamm-Baum eines fruchtbaren Geschlechts: „.. Und / aber besser wär’s ja besser zu scheitern“.
Wenn schon „scheitern“ – auch eine Form, den Stammbaum und Wort-Stamm zu zerlegen, zu Sprießeln und Buch-Stäben – wenn schon „verlieren“, dann lieber „die Welt“ und „niemanden sonst“: also lieber gleich der Welt abhanden kommen – als den andern. Hier steckt die „Drohung“ – ein furchtbar fruchtbares „RO“ -Wort – „en gros“ und „en detail“ im „Rot“: Wenn das „Nachtblei… die Schwerkraft widerlegt“, widersetzt es sich der eben benannten Kippfigur des Daumens „nach unten“: Aber auch diese Umkehr hat ihr „Dummes“ – „Staub fällt blöd / nach oben“ („Zoff“) – das N-ACH-t/Nicht-Blei trägt in sich die Acht und das Ich: und fällt in der Schwerelosigkeit des Gedichts nach oben.
Die Paradoxa setzten das Doppelspiel der Signifikanten von der Wort- auf die Satzebene fort – gipfelnd in der Verschwörung von Doppel- und Widersinn mit den Sinn-Leeren der Kippfiguren und Zeilen-Satz-Risse: „Nur dort wo / wir nicht sind begegnen wir / uns.“ – heißt es im Gedicht, das den Namen „Treffpunkt“ trägt und zugleich den Punkt einer Nichtbegegnung markiert, gesteigert zum Ausdruck einer vollendeten Exklusivität eines Ich, das im N-ich-t-Ort präsent und zugleich absent ist: „im Nu“, in jener Null-Fuge, die im alten Deutsch das mystische „Itzt“ auf den Punkt brachte. In jenem „I-Pünktchen“, das dem Jota die Krone aufsetzt, gipfelt der Moment des „Hier-und-Jetzt“ und seiner Jeweiligkeit, im blinden Fleck der Evidenz steht die Strophe (vertikalisiert) im Zenith, im „Treffpunkt“: „.. Auch / diese Strophe ist bloss / eine Version / inniger Finsternis. Dir / gewidmet. Unübersetzbar immer // nie / und also leicht / zu haben.“.
Übersetzbarkeit – und ihr Gegenteil: beides folgt dem Namenlos auf den Fuß. Übersetzen eines poetischen Originals, das selbst Übersetzung ist aus einem anderen Original oder einer nonverbalen Textur, die ihrerseits andere Urtexte kopiert, parodiert, wieder-holt. Der Autor neigt zum Alles-und-Nichts-Übersetzen, zum „immer / nie“ aller möglichen Versionen jener anderen Zustände, die sich im Unaussprechlichen ihrer „Finsternisse“ verbergen.
Der Phall/Pfahl „steht und fällt“ mit dem „Zufall“ so der Titel – etwa dem der Homophonien, die sich auf Ausdrücke erstrecken, die „Meer oder weniger“ im Gleichklang einen semantischen „Meer/mehr“-Wert zeugen: „Ist / der Fall wer steht und / kann nicht // anders als begreifen. Dass / Meer auch nur / ein bisschen mehr ist / als die Hälfte // des Ganzen..“ Des Ganzen der Doppel-Wörter, unfreiwillig-verliebter Zwillinge, die jeweils die halbe Wahrheit und nur zusammen das Eine verzwei- und das Zwei vereinfachen. Zwischen den Hälften – „Zwischen / Fisch und Vogel / stiehlt ein blinder Fleck / die Schau. Schau // jene Stimme..“ – im „Dazwischen“ der Hälften steht der „blinde Fleck“, jene Indifferenz der Alles-und-Nichts-Schau. Die „show“ ist gestohlen und muß doch immer weiter gehen; die Schau aber fällt aus, weil der blinde Fleck sie nicht zuläßt an jener Leer- und Nullstelle, wo der Name des Namenlosen im Zenith steht. Hochmittag eines nur allzu unbekannten Rituals. Im Spalt zwischen den gleichklingenden Hälften – eine jede das „alter ego“ der anderen, eine jede die „bessere Hälfte“.
Ebenso aber klafft diese Leere – als Gegenbild zur scheinbaren Fülle des „mehr/Meer“ – zwischen dem wiederholten „Schau. Schau“: zwischen dem Nicht-sehen im Zentrum des Hurrican, Eintritt des Sehnervs, wo die Regenbogenhaut ausläßt – und dem Anders-Sehen der „Stimme“, die doch dem Auge stumm bleiben muß, da sie im anderen Medium schwebt: als „Schrei der Möwe“.
Tod. In der Tat – allgegenwärtig. Alles Thanatopoetik – ganz nahe Mandelstam und daher Celan. Hier der Name – Schrift und Stimme – als Mahnmal, als Epitaph, als ragende Gedächtnis-Stele, dort der Tod als Echowand, von der her der Lebenstext sich reflektiert, widerhallt, rückströmt: Heraklits Strom und Gegenstrom, Ja und Nein, Alles und Nichts. Alle Sätze und Wörter ergeben retourgelesen, mit der Vorwärtslektüre zusammengenommen, einen gegenläufigen Doppeltext, der erst der Ganze ist und als Möbiusschleife sich selbst verschlingend hervorbringt: „.. Da // überleben im verborgenen / Extrem die Blicke / die Augen. Wie winzig der Tod. // Wie ständig / der buntere Schatten. / Hier lautet // jeder Name / länger als ein Leben. /..“ („Vita activa“) Aus der Extrem-also Über-Perspektive der Kippfigur des Tod/Lebens überleben die Blicke die Augen, die Schatten – als Über-Setzungen – die Originale: nur so können die Namen ihrem Gegenbild – dem Nichts – ins Auge schauen. Wenn Blicke töten könnten. Wenn sich alles im Namen vereinigt, was überhaupt sein kann, dann muß jede Onomatopoetik in Thanatopoetik umschlagen. Der andere Tod – der Tod, der immer einer der anderen ist: Ingold sieht ihn unversehens im Fernsehen. Die Fernsehbilder flattern immer wieder aus der Flimmerkiste in die „camera obscura“ des ko(s)mischen Welt-Raums: Die „vita activa“ jener Kampfzonen – marginal lassen sich Balkanszenen entziffern – tritt ins Bild: „die Sniperin / barfuss im Stoppeelfeld.“; zugleich kippt die Heldin des Kriegsberichts in die Allegorie der Mondsichelfrau, die im östlichen Mythos als Schnitterin den ragenden Halm (I-ngold) kappt, die Namenträger sprachlos macht („Nicht schlecht gestaunt“)
Onomatopoetik also liest die Welt und die Worte von vorne, vom Ur-Text her – Thanatopoetik vom Ende, inversiv, rückläufig. Beide Bewegungen – die pro- und regressive – überlagern sich in der Gegenläufigkeit der Gedichte und durchkreuzen alles und jedes. Daher ist der „Fluss“ früher als die „Quelle“, die zu spät kommt (wie das Leben), daher zuerst das „Salz“ und dann das „Meer“ (die kleine Dosierung der Prise und die „Mehrheit“ der Substanzen): „Nur der Sturz / hält auf. Und heilt. Wie / weit.“ („Saline“) Der Sturz – vom Anfang ins Ende, von oben nach unten – wirkt heilsam, wenn er vom Ende her gedacht und gemacht wird. Im magischen Punkt der Dichtung bleibt er in Schwebe – es ist der blinde Fleck, der stumme Name – „hält und heilt“, wenn sich Vor- und Rückwärts der Thanato-Onomato-Poetik die Waage halten.
Daß die Waage immer wieder versucht werden muß, läßt ahnen, wie selten sie gelingt. Schon der Nachbartext meldet Zweifel an. Auch hier der „Fluss“, der „wurzelt“, also nicht vom Fleck kommt, im Moment: Nur dieser Augenblick, dieser Punkt, den die Eintagsfliege hinterläßt, bleibt. Interpunktion des Lebenstexts und Fragezeichen, ob es denn „genügt dagewesen zu sein“ – „im gleichen / Augenblick wie diese / Fliege. Also / jetzt.“ („Tanz“) Der Onomatopoet schreibt seinen Namen an diesen Punkt, der Thanatopoet löscht ihn sachte wieder aus, der hat seine Sache auf „Nichts gestellt“ – als Einziger mit seinem Eigentum, das aus ihm Selbst besteht und fällt. Das „Vielleicht“ der Frage nach der immer schon ver(sch)wundenen Evidenz des Augenblicks wäre nur allzu kleinmütig, wenn es nicht auch das „Viel“ und „Leicht“ enthielte und damit jenen Moment, der einzig im „Augen-Blick“ sehend und sichtbar wird.
Eben hier setzt der Nachfolgetext ein – im „»Jetzt / aber tagt’s.“, über-schrieben im Wort/Bruch des „Morg..“-Titels. Der Abbruch mitten im Titel-Namen (der folgt übrigens wenige Zeilenstufen auf den Fuß) realisiert horazisch das Programm im Engramm, das Wovon im Währen(d) der Rede, der Wortfolgen. Der Morgen bricht ab im „Morg…“, weil der Augenblick – das immer neu einsetzende „Jetzt“ – nur in der Vorwegnahme möglich wird: „.. Über der Lichtung / taut // das steifgefrorne Tau / an dem fast / alles hängt..“ Heideggers „Holzwege“ waren zuvor ins Bild gerückt, jetzt tun es seine „L-ICH-tungen“ – als „»Das Eine // in sich selber / Unterschiedne.«“. Der Morgen-Tau steht im Zeichen einer Besamung der Mutter-Erde durch den Himmel – (»Tauet Himmel den Gerechten«). Doch diese Ikonographie birgt ihr Gegenbild im Rücken: das himmlische Antlitz des Morgens trägt am Revers den Totenschädel der „morgue“ – Wegweiser zu jenem Leichenschauhaus, wo in den Morgentau das Tau hängt, „wofür es nun / doch nicht TAUgt. Nicht für den Schwung / ins Endgedicht.“ Vom „EndgedICHt“ her bzw. vom GedICHt-ende wird die „GeschICHte“ reversibel lesbar: Immer im Zeichen des ICH entfaltet sich Geschichte nach vorne, vorwärts, endwärts als Lebenstext, der retour gelesen ein Totenbuch artikuliert, in dem die Worte als Namen (bei Mandelstam sind es „Bienen“) aufgefädelt hängen: „.. Wo so viele / Namen hallen / ist Ich nicht“, also: Ich im „nICHt“ fein säuberlich gelöscht.
Weiter entfaltet, entrollt sich das „Tau“ – fallend wie die Schnüre bei Marcel Duchamps kalkulierter Zu-Fall-Installation – „und fällt und / klatscht in den matschigen Neuschnee / bleibt’s liegen / als ACHT. Ist Gegenwart endlos und / jetzt wie nie..“ Das vertikal baumelnde Tau, an dem das Ich hängt, fällt auf die Tabula rasa, beschriftet das Blatt im Zufalls-Bild einer Tintenschlange, die sich im Papier-Weiß wälzt und die Ewigkeitsfigur zeichnet: die „Acht“ – in der Vertikalen das Ziffernsymbol – ideogrammatisch aus zwei vertikal aufeinandergetürmten Nullen gebildet; in der Horizontalen – nochmal weibliches Zeichen der Ewigkeit, diametral dem Doppel-Nein und seiner Doppel-Null entgegengesetzt. Was fehlt und mit „Ingold“ nicht aufzuwiegen ist, was nicht und nicht kommen will oder soll, ist die „harmonia mundi“ einer vollen, sich erfüllenden Hermetik: Die Acht fällt flACH zum End-Los, das große „ACH!“ steckt ebenso in der „ACHt“ oder „N-ACHtT“ wie das ICH im „N-ICHt(s): Beide pneumatisierten Atemzeichen – das leidende „Ach!“ wie das leitende „Ich“ – durchweben als Leid-Leitmotive „Jeder-Zeit“ die mit einem Mal ganz „anderen Gedichte“. Das „Ach!“ als Exklamation, als Index und Appellativum, ist ganz und gar Körpersprache der Urworte, eigentlich präverbal und Stimm-Reflex auf den Schmerz; am andern Ende ragt das spitze „Ich“ hochauf ins Leere – postverbal und doch wie das „Ach“ ein Index, während dazwischen „nomen“ zu „omen“ wird und umgekehrt.
„Vice versa“ wird zur „Membran“, zum Medium des Flimmerns und Oszillierens „zwischen den Zeilen“, zwischen den Zwischenräumen, in-vers zum „Bran und Mem im selben / Atemzug.“ („Moment“). Zwischen Vorher/Nachher, am Schrägstrich (Membrum) der Differenz scheiden sich nicht die Geister, da kommen sie zusammen – osmotisch und in der Wechselwirtschaft einer Chemie, die alle Symbolreihen von beiden Enden her aufspult – und immer „auf dem Sprung“ ist. Da häufen sich dann die „ICH“-Formeln, die den „ACHtlosen“ Wörtern eingeschrieben sind – oder eher an den Rücken geheftet, damit das ICH sICh nICHt sehen muß: „.. Ich (übrigens) taumelt / … / weiter zwischen StICH und PflICHt. / Ein kurzes Schweigen räumt’s / fort..“. Moment Blick – Schweigen – Jetzt: all das sind Nullpunkte der Evidenz, wo die Übernamen wie Überkleider abfallen, um im Index zu stehen und ins Endlos der liegenden Acht zu fallen.
Im weiteren tragen diese hermetischen Prozeduren auch einen Namen – den des Archipoeten der russischen Avantgarde Velimir Chlebnikov („Hundstag“), folgend der „Eingebung / des Augenblicks wo / Chlebnikows Hut noch einmal / wassert..“. Während der Fingerhut des Augustinus das ewige Meer/Mehr nicht ausschöpft und damit zum Symbol der Unaussprechlichkeit des Ewigen wird, „wassert“ Chlebnikovs „Hut noch einmal“ – Gestus der Vergeblichkeit und Freigebigkeit eines Unerschöpflichen, der die Weltmeere ebenso „signierte“ wie das „Buch der Erde“. Aber auch Chlebnikovs Hut mag Ingold nicht passen – denn was bei diesem „noch einmal“ geht (die Welt-Schöpfung aus dem Meer), geht jetzt nicht „mehr“, denn es herrschen nicht Schöpfungs-, sondern „Hundstage“, wie der Titel anzeigt.
Einer der ausgesprochenen „Helden„ der Anderen Gedichte ist kein anderer als „Kain“ – erstmals tritt er auf in „Keinmal“, um schon einmal sein „Mal“ ins Werk zu setzen – und so gleich ins Nein- und Nicht-Wort: Einmal ist keinmal, während das Kains-Mal den Thanatos bringt – ja Brudermord. Kain sitzt im Nichts, während Abel im „N-ABEL“ ruht („Keinmal“; „Kain“). Und In dieser Matrjoschka-Puppe der Namen sitzt wieder einer – in „K-ei-n“ steckt als des Pudels Kern das „Ei(s)“ als ,,K-ei-m“, ja es steckt noch im „Geh-eimen“: „.. keinem ist alles / genug. Auch nicht im Eis / das grosse Keimen. / .. “ („Alphabetisch“).
Kain schleicht durch die Geschichte wie Odysseus, der sich als „Keiner“, als „Nemo“ im Schutze, unter dem Hute des Nicht-Namens bzw. des Namen-Nichts an Polyphem vorbeidrückt. Die Namen sind es, die „ragen“ – Mahn-Male und Kains-Male in Einem: „Wie vorm Gewitter all die Namen / fraglos ragen .. “ („Magerwiese“). Solange sie perpendikular zum Erdhorizont stehen, herrscht das Namen-Los. Namen und Gedächtnis queren den Zeitstrom, teilen die Wogen der vor- und zugleich rückwärts strebenden Redeflüsse. Alphabetisch gedacht wachen die ACH-Formeln über „A und O“, Anfang und Ende: „.. ACH wie rasch / Asche. A wie O fasst nichts als / Namen.“ („Alphabetisch“). Die Namen stehen in der Nacht des Seins und im Nicht des Absenten, des Verschwindens – „das sprudelnde Schweigeorgan / rascher versiegt.“ („Biblisch“)
Die Anderen Gedichte haben insoferne ihr Vorher und Nachher, als einmal exponierte Wortthemen in der Folge weiterentfaltet werden, variiert, aufgefächert und dabei eben doch voraussetzen, daß das entsprechende Motiv schon angeschlagen wurde: „.. Oder das / versteinerte Ei das nie wieder / taut. Der TAU-be / gibt das Korn den Rest / .. “ („Überleben“). Die EI und AU-Motive paaren sich zum „T-AU-ben-EI“, das oben im Textgebälk geknotete „Tau“ fällt wieder und wieder auf die weiße Fläche des Schreibhefts und einmal sind es die „Tauben“ als Vögel, einmal die „Gehörlosen“, die sich dem „Tau“ entflechten, die dem „Tau“ entspringen: „.. um sich als feuchte Spur noch / einmal zu behaupten.„ („Überleben“). Das fallEnde Tau hinterläßt seine Schlangen-Spur, wie der gefallene, aus der Fall-Linie gestürzte Namen-Träger, der Onomatopoet, der in seinen Thanatos stürzt und damit zur Spur jenes Textes wird, der ihm aufgegeben war.
„Das Buch der Natur“ verhilft zu seinem „Meer“-Wert im Blick vom Ende her: „Das Meer wie jeder Leib ist // eins und aber / nie gehört es. Wie’s aufhört / wird im Nachwort kurz beschrieben.“ („Naturkunde“) Es wird beschrieben im Epilog, wie die Story „ausgeht“ – und das im Doppelsinn. Doch dieser literarische Nachlass kann nichts ersetzen, was im „Meer“ sich „mehrt“, „.. Wo / schon im zweiten / Band (noch vor dem // Leben) das Meer / nicht mehr zum Festland / findet..“
Zwischendurch gibt es Gedichte, die präzise jene Schlüsselwörter ins Zentrum, in den Titel setzen, welche anderswo in den Falten der Anagramme versteckt bleiben: so im Gedicht „Acht“, in dem das Titelwort – wie immer wieder direkt in den Gedicht-Satz überführt und damit seine Doppelrolle als Rahmen und als Gerahmtes, als Titel-Namen des Textes und als Text-Wort zu spielen beginnt: „Acht // haben viele. Stehn / im Liegen..“. Nach dem poetischen Prinzip der Verflechtung (oder ist es Verstrickung?) figuriert die „Acht“ als Zahlwort und als Leit-Motiv, die ihre „Acht“ in den Bann der anderen „ACH“-Motive stellt und diese wiederum mit den EI-Formeln verknüpft: Dabei wird auch das hier mehrfach markierte Thema der Umkehrung des Zeit-Flusses, des Rückfließens der Quelle, ebenso aktiviert wie das schon fixierte „K-ai-n“ / „k-ei-n“ – Motiv: „Keine Schlinge kehrt / wie keine Quelle nicht in sich / zurück. Keine endet // zur Zeit. .. “. Die Bausteine dieser Motivreihe sind alle schon ausgespielt, sie zirkulieren bereits, sich wiederholend und dabei variierend, wobei ein jedes Element mit jedem in Kontakt tritt und aus der Hochzeit der Wörter (so die heitere futuristische Formel) immer neue Kinder gebiert. Rück- und Vorläufigkeit, Verneinung und gnostische Negation der Negation, ja der gesamte paradoxale Aufwand einer in sich kreisenden und sich selbst verzehrenden Argumentation schließt ein Feld auf, das zur Unendlichkeit führt, zur liegenden „Acht“. Dieser steht auch hier das „Ragen“ entgegen, die vertikale „Acht“ („Habt Acht!“) als Appell und „M-ACHT“-Wort, instauriert, ins Wortfeld gerammt, um den weiblichen Zyklus des achternden Mäandrierens und Werdens („Natur“ – so das letzte Wort des Gedichts) lächerlich scheiternd zu dominieren: „.. Ragt stramm / nur die ACHt-ung auf Unheil und / Staat. Wo M-ACHT / als R-ACH-e beginnt. Ja … / … ACH wer schlägt wen wenn wieder / Kain übers Sch-ACH-brett stapt und hat am Gängel- / band // die Natur.“
Die Schwerkraft läßt das Tau, das Ragen, die aufrechte „Acht“ fallen und macht doch erst dadurch die Schlangenschrift-Spuren auf der Weiße des Feldes sichtbar. Als Krankheit zum Tode wirkt dieses Kains-Mal und Keinmal stationär„ und „Ambulant“ (so der folgende Titel), im Stehen wie Gehen, „Spitzkehre“ wie „Scheideweg“. Wo der „Engel tickt“ als Zeit-Bombe, tickt auch das Leben dem Ende entgegen („wird das Ende zum / Vorwand für den / Hoffnungslauf..“). Und zuletzt das Ausgangsthema – „.. Nur Totes // unter-scheidet wenig genug..“, was zum Anfang zurückweist, wo es um die Unter-Scheidung ging, die doch eine Gleichzeitigkeit und Ambivalenz bedeutet – von „Spitzkehre“ und „Scheideweg“ – oder kürzer: von „Spitze“ (Hab Acht!) und „Scheide“ (Sei Acht), von #8# und – 00 – : „Auszuhalten ist / das Ja.“ (Ende des Textes). Die Spitzkehre will die Entscheidung auf die Spitze treiben, vertikalisieren und dominieren; der Scheideweg läßt die totale Aporie, die Weg- und Entscheidungslosigkeit offen und parodiert so die „Spitzfindigkeiten“ der als Wegzeichen gerammten, ragenden Lanzen und Türme und Schreibfedern und Ständer.
So lassen sich auch die „Und“-Formeln durch die Gegensinnworte deklinieren – durch „W-UND-e“ und „W-UNDer“,- die beide zusammengehören, konju(n)giert im „Und“, als Frau und Mann, als Öffnung des Leibes, in die Leben und Tod aus- und eingehen – spitz und „r-UND“: „Wie viel Salz die W-UND-e aufwiegt. / … / Harzt das W-UND-er wie immer / wenns’s tagt. Sagt keiner // denn die letzte R-UND-e an. /… / .. noch in weiter Ferne / aber klar zu erkennen // als blinkender P-UNK-t) / duckt sich der Feind zum Spr-UN-g. / Den Sieg zu schlagen.“ („Etwas“)
Was die Wunde(r) schließt, ist die „Narbe“, was die Öffnung deckt und das Nichts füllt mit seiner Kehrseite – ist „Name“, wenn er aus paradoxaler Lust das Unsagbare aufruft, wenn er das Gegenteil vom Gegenteil sucht: So „w-ACHT schließlich“ der Gefangene im „Arrest“ „über den BewACH-er. Verm-ACHT / ihm seinen Namen / als Narbe. / … / Zeigt ihm / das EIN-ges-EI-fte S-EI-l / und m-ACHT daraus die ACHT.. / .. “ Immer mehr verdichten sich die Seil- und Machen-Schaften: Das „eingeseifte Seil“ ist die Todesschleife des Henkers, das fallende, zur Schleife geknotete, zur ACHT gewundene Tau aber trägt zweimal in sich die Null-Form des „Eis“, das „ex ovo“ allemal vor der „Eins“ kommt. Die Spinne, das Netz und die Eintagsfliege am Ende von Arrest“ zitiert die Gefängniszelle von Nabokovs Cincinnatus aus der Einladung zur Enthauptung und knüpft so die Seil- und Tau-Enden an die Spinnennetze von den uralten Normen zu den Welt-Gefängnis-Emblemen – fragt sich „Ob’s / hält. Ob’s gefällt.“, ob die Netze tragen, wenn man fällt, ob ihre Maschen fangen, im Nichts fischend. Nicht Cincinnatus wird beim Namen genannt, sondern das Insekt – die Fliege, die Spinne – anderswo die Zikade der Zitate. Wir hören „Cin-Cin“, das ferne Tengeln-Tingeln einer feinen Sense, einer Mondsichel. Einer Doppelaxt.
„Immer / nie“ – auch so ein Doppeladler, Rücken an Rücken genäht, Spiegel an Spiegel geklebt – jeder für sich in die Gegenrichtung blickend: „.. im Rück- / spiegel immer nie Erinnern // .. “ („Hölle“) – oder zuvor: „.. und immer dieser eine / Leib zu zweit der immer nichts verschweigt / .. “ („Arrest“) – das Tier mit den zwei Rücken, m-ACHT Liebe und das mit den Rücken-an-Rücken sucht den Fluchtpunkt: Nichts als weg – zum „Erinn…“ und „Morg…“, zum Gegen-Gegen-Teil, zu dem die „negativen Hände / sich zusammentun um / eifersüchtig / eine und nur eine N-ACHT // zu sein..“ (Umsonst“) – eine ACHT?, ein ACH? oder – „ein / Wort wie N-ACH-en / oder Kahn … / .. “ („Sils“)
Als „Seestück“ erscheint dies und als „Seh-Stück“, mit Blick auf die marine Katastrophe und – diesmal – rettende „Taue“ – oder redende Taube(n)?: „Verschlauft sich / im Sturm das Rettungsseil zur / Schrift. Wird Wort. Bleibt / unbenutzt und lacht am Bug // ein späteres Gesicht.. / .. “. Ein späteres Gedicht – aus den Spuren des „Taus“, die durchs Wasser schlenkern und eine noch ungelesene Schrift hinterlassen. Vom „Tau“ zur „Wunde“ („wird / Wort“), vom ragenden Mast und fallenden Seil zur Wunde, die „schön dunkeIblau / und – look at it! – schluckt alles. Gleich / wird das Wrack // auf gutem Grund verglühn. / Hat wer zuviel / überlebt um früher zu / enden.“ Marina als „W-UND-e“ droht zu „verschlucken“, gähnt als schlingender „M-UND“, der – wieder im Paradoxon stehend – ein- und aussa(u)gt, sterben und werden macht: „wird / Wort“.
Hin zum nächsten Spiegel-Bild: „Narziss„ (so der Namen-Titel): „Der liegt besonders / mühelos am Rand..“ auch er „immer unvollendet“, immer „vis-à-vis“, einer mit dem „weißen Wissen“ („.. fällt aus // dem harten Himmel / weiss das Laub. Und wie / man weiss //.. “). Dem Weisen ist alles weiß, wie dem Reinen der alten „Wiss-enden“.
Diesen starren Blick in den Spiegel (der Medusa) durchkreuzt „Ikarisch„“ der Sturz durch den Spiegel: was bleibt, liegt „am Boden abgestürzt / die Schwalbe mit gebrochnem / Genick..“: Ikarus stürzt wie Mandelstams Sendboten der Persephone, die Schwalben des Hades, die den Fallenden (Tauet Himmel!) begleiten – auch in den „Staub“, vom All in den Tag täglich geworden zum „dreckigen Federball“.
Wie so oft auch hier nicht nur Mytopoetik, nicht nur Holz vom Holze Mandelstams, nicht nur Blüten-Lesen Cvetaevas – Königsrufen, Namenrufen, Echolote: „Holofernes“ – Hole Fernes“ ..Ich im Spiegel geht, stürzt aus der Zukunft in die Gegenwart – wie: „Judith / folgt dem Messer hingerissen / von der Zukunft die // sich in der Klinge spiegelt wie / kein Ende. /… / Ich werde / mich gleich sehen // lassen. / … / Das / wäre ich..“. Im Spiegel der Klinge (im Klingen der Spiegel) ist das dem Ich entgegenstürzende Ges-ICH-t das eigene Ende des andern: „Sie richtet’s. So sind / wir quitt.“)
Die Innenseite der Wörter – Worte als Namen; die Außenseite der Worte – Orte des Ich / Nicht: „Aussen“ (betitelt) // ist Leere immer. / … / Wo N-ÄCHTe w-ACH-en / .. “. Und in der Folge das, „was Lunten riechen zwischen / Wort und Bedeutung. Und aber / jetzt ein Flügelhieb als Gruss vom Meer / .. “ von Marina und von den Vögeln im Mandelstam. „Zwischen Wort und Bedeutung“, Signifikant und Signifikat gibt es nichts als das Nichts der Zeichen-Schwelle, die liegt quer durch die Doppel-Null-Acht – quer auch wie die Verschiebungen inmitten des Wortes „Mensch“ – „.. Ewig Not an Men / und Schen solang / Lemuren Uhren sind und rückwärts // gehn. Gen Ostern. Und genau / — / nach Strich und. Wie / — / am Schnürchen.“ Hier kriegen wir es wieder zu Fassen: „am Schnürchen“, das Tau, das Seil, den roten Faden, der vom Ende her aufgespult wird zum jeweiligen Mittel- und Gipfelpunkt, in dem wir „Men // Schen“ stehen, ragen, (uns) ver-sagen, ver-sprechen, ver-gehen.
Einmal darf auch der Tugut, also Abel seinen Auftritt haben: zum „Glück“. Dieses folgt eben jener Leer-Formel des Habe-Nichts oder der Nichts-Habe: „.. Nicht / zu haben aber im Verschwinden / da.“ Als Ureigenstes wie Unerreichtes fällt es mit all dem zusammen, was von „unten nach oben fällt“, aleatorisch auch: „Nach oben. Glück ist (weil ohne Kopf und ohne / Zahl) der erhabenste Verlust ins / Geheime. Uralte Währung / einzulösen nur für mehr als alles.“ Glück im Spiel („alea“ und „Spiel im Hades“) – Pech in der Liebe und vice versa. Kugelkopf und Zahl („Acht“), Globus und Kubus, Totenschädel und Krypta – all dies rechnet sich nur als Quadratur des Zirkels, ist unbezahlbar – oder wenn dann nur mit der Scheide-Münze „Tod oder Leben“, um über den Lethe-Fluss zu kommen, der vom Ende her fließt und daher gequert werden will.
„.. Ich sag’s dir. Usw.“ so endet das Gedicht/Gesicht unter dem Index „Eins“ angesichts der „Ver-zwei-flung“. „Tod oder Leben“, „Eins oder Null“ oder ist es umgekehrt? In welche Richtung buchstabierend Leben und Lesen – retour weist die „Ansichtskarte“, erotisches Memorial und stärker im Geruch, in Erinnerungshaft als der direkte Anblick – „Schau dort Claire“ – „Und wie nun / plötzlich drüben im Vorfeld // der vergessene Name / von gestern ragt / und mahnt. Mit Grüssen.“ Der vergessene Namen ist dort versteckt, wo der „Purloind letter“ daliegt, um ungesehen zu bleiben: im Offensichtlichen, die „tabula rasa“ als Präsentierteller oder Kaminsims. Hier aber steht der Name als Erinnerungs-Duft-Note und läßt grüßen aus dem Vergessen: Das ist schlimmer noch als die unerreichten Arme von „Claire“, „taucht beide Arme / in den hellem Ginsterschaum / und zieht daraus / eine Lehre die duftet. / .. “ Der Name als Leer-Formel steht als Kehrseite jener Lehre, die duftet: schwerer Gedächtniseinbruch in einen sonnigen Mittag, in eine kauernde Frau.
„Einmal“ // „dem Licht die Ohren leihn..“ – Sichten-Dichten als Seher-Hörer der „Zeichnung“, die Zeichen bildhaft und oder buchstäblich. Was aber bisher als Macht alles in Acht und Bann schlug: das Aufrechte, Ragende, die Eins – tritt nun endlich als Senk-Blei des Stifts, der Typo-Graphie ins Bild: Die Strich-Zeichnung verknüpft „eine / Möglichkeit mit einer andern Möglichkeit“ und überläßt es der Willkür, „Was man / als Strasse oder Fluss erraten / könnte steht senk- // recht zur Erde die für die Füsse / ist und fürs Gewicht. / .. “ Der Wider- und Gegenstand zeichnet sich ab, ragt herein als vertikal gewordene Horizontale (von Fluss und Strasse); zugleich wagt sich der Griffel nicht an die Marginale, die Mandelstam für den Haupttext selbst nahm, wagt sich nicht an „das Glück wie’s vergeht / wo der Stift hin- und zurückzuckt / um es festzuhalten gewichtlos wie Blei.“ Denn dieses ist Symbol für Gewicht – bleischwer – und für die Lettern aus Blei, die alles Gewicht verloren haben, ja die einen Text prägen, dem die Schwerkraft abhanden gekommen ist, ja jede Zeichnung: „.. Gesichte ohne Kinn und Stirn // sind angedeutet / als rasche Schraffur..“
Malewitsch, der späte – mit den Eier- und Null-Köpfen ohne „Zeichnung“, ohne Augen, Nase, Mund: „Denaturiert“ das Antlitz (»Die Natur hat sich von uns zurückgezogen.. « O. Mandelstam im Motto): „.. Grau in // Grau zurechtgedACHT als / Tote Natur. Die / braucht übrigens kein Ich. Und // auch nicht mich. / In Gold ist dieser Name / längst vergolten.“
Jetzt also ist es so weit: Der Name selbst, der Name „InGold“ leuchtet auf, sagt sich los und bannt die „nature morte“, den Natur- Tod und die Tod-Natur. Ich hat nichts zu schaffen mit ihr – wo Natur, da kein Ich, wo Ich, da – „denaturiert“.
Der Name des Autors ist der Name des Vaters für Dichtung: „Eigennamen“ – so der Name des Gedichts: Dieses kann eigentlich keine Titel tragen, die seine Würde wahren. Spielerisch taucht der Vorname auf („Philipp“) – auch im drohenden Anklang an den toten Knaben im „Erlkönig“, während das „Glück“ des zweiten Vornamens aus (geblendet) bleibt. Wenn der Name die Kopf-Zeile schmückt, entfaltet sich der Text als genähter Korpus, dem die „diesieeta membra“ anders herum, und vor allem – wie es sich für den „homo erectus“ gehört: von unten nach oben – an „genäht“ sind.
„.. Mit / einem Knie als / Kinn. In Maschinschrift die // Lippe mit dem Ohr vernäht. Die // Sohle mit dem Zick- / zackgrat des Scheitels..“ („Mal“) Hier ist die Schreib-als Nähmaschine am Werk, die Texturen zusammenflickt aus den Fragmenten der Textkörper – von unten nach oben, wie gehabt, und auch spiegelverkehrt – gegengeschlechtlich: „.. Einfach mal / einfangen was vom Mann / als Frau genügt auch wenn’s bloss / im Spiegel steht.“ Spiegelschriftlich gewendet – einmal ist kein Mal – und der Mann steht als Frau „im Spiegel“ – umgenäht, umgeschrieben, umgedichtet. Die Sprechpuppe zeigt ihre Male wie Nahten – „Lippe und Ohr vernäht“: wie bei Majakovskij wird das Ohr umgepolt zum Sprachrohr und der Sprachkörper insgesamt fragmentiert und neu – im Zick-Zack-Stich – getextet. Ein roter Faden läuft aus diesem Näh(r)stoff zur Fragmentmontage des Russen – der anagrammatische Gliederpuppen kennt, bei denen das Ohr dort angenäht ist, wo an dem der Mund offen steht – oder umgekehrt.
Nicht wir werden ikonisch ins Auge gefaßt, das Bild selbst erlischt unter den Blicken, mehr noch – unter dem Be(i)fall von „Grün“, von einem ganz anderen Planeten, der scheinbar zum Greifen naheliegt und doch durch so viele Texturen durchdividiert, durchnegiert, durchpassiert weden muss: „Alles da. So nah / an der Natur ist nichts nicht / klar. Alles so gut // wie tot…“ („Stilleben“). Aus dem „Alles klar“ wird ein „Nichts-Nicht“ klar, logisch dasselbe – was im verbalen Dasein aber doch „nicht-nicht“ das andere meint: „Wo Namen nicht mehr unterscheiden“. Nochmals geht es ums Bild, um den Buddhismus der „Stilleben“ („Still-Leben“) und ihrem verschwiegenen „Verlust der Mitte“, da sich alles am Rand, am Horizont des „fernen Ostens“ versammelt – auch hier wie in der „Ikone“: die Trigonometer und Perspektiv-Apparate sind gründlich verlegt und verlernt („Wo kein Winkel heftiger // mit Perspektive droht. / .. “) und an Cezannes Apfelschal gescheitert, da sich die Bildmitte leerte und auch Sehkegel auflöste im Flucht-Punkt: „So wie das Bild // unter all den blinden Dingen / ein Aug hat / das sich dem Blick den es // anzieht entzieht.)..“
Wie die Augen der Ikonen nicht gesehen werden, sondern den Betrachter anschauen und ihn so zum Seher machen, sind diese Verhältnisse im dritten Grad der Sehschule nochmals zugespitzt zum Doppel-Oxymoron des „sehenden Bild-Auges“, das seinerseits zu einem blinden Fleck wurde, zum Blind-Auge, das sich dem Betrachter entzieht, der seine „Gesicht verliert“ – das eigene und den Gesichtsinn: wieder Malewitschs leere Eierköpfe, wieder die „unlesbare Signatur“, das unhörbare „Still-Leben“ als „nature morte“ und nicht als „Sieg-Natur“.
Die Retrospektive, der Rückfluß, die Gegenströmung – vom Ende her – den Redefluß wie den Strom des Lebens, der vom „Ursprung“ doppelsinnig ausgeht: „Da treibt es / flusssaufwärts dem Ursprung zu“ („Hermetisch“): Nur so „wird endlich wie alles // zu nichts.“. Zwischen Quelle und Meer – all das Zielstrebige, Fortschreitende, Linientreue kehrt sich – hier wieder – im Gegen-Strom Heraklits in sich in nichts.
Sprung übers „Zeitchen“, über die Null-Stelle- und Schwelle: „Zeitchen // heisst die schwerere / Schwester“ – und bei Mandelstam (wie Celan) lautet das: „Ihr Schwestern, Schwer und Zart, ich seh euch – seh dasselbe. / Die Imme und die Wespe taucht in die Rose ein. / Es stirb der Mensch, und kalt wird der Sand, der glutdurchschwelte, / Die gestern helle Sonne – schwarz trägt man sie vorbei..“ Schwarze Milch, schwarze Sonne – thanatopoetisch getragen ins ins Reich der Persephone. Die kleine Weile fällt ins Gewicht als „Zei(t)chen“, drückt als „Schwerstes“ die Waagschaale, hängt am Zeiger als „Klein Zorres ( das ist / Zero)..“, das ist Nullchen – „Von Acht bis Acht [!] / ist er im Rennen während // seine Schwester / lastet. Auch könnten Rast / und Pause Zeit- / chen heissen..“, also Zwischen-Zeit, zuckende Fliegen-Flicken im Vorrücken der Null, die mitten durchs Leben wandert. Das Zeichen der Zeit – eben das  Zeit-chen“ – steht als Zeiger immer „Habt Acht“: ein Einser springt vor, dann steht er auf Null-Uhr: „Rast und Pause“ zwischen „gestern oder / morgen ist doch / ganz egal.“.
„Für eine Kurzweil / ewig“ pendelt er im „Immer“: „Die Zeit scheint »immer« / (nicht wahr und / oder) vergangen zu sein.“, sie scheint – wie die Sonne – zu sein und/oder nicht zu sein, zu leuchten und/oder nicht zu leuchten. Das Trägt den (Gedicht-)Namen: „Immer“ und/oder „Glück“. Hier steht es auf „unten“ und reimt auf „Wunden“ und beides weist auf ein ausgesprochenes „Wunder“ (auf den totalen Unwahr-Schein) – das „Ja“, das immer unausgesprochen bleibt, das gibt es nur als „Nicht-Nein“: „Kein Nein gilt »immer«.“ Und »immer« steht zwischen den Anführungs-Zeichen: als »Name«, als »Zitat«, als direkte Rede eines Anderen, als »fremdes Wort«, das „übersetzt wird“ ins Eigene: „Wo jede / Übersetzung »immer« irrt.“, denn „Was zählt hat »immer« / weder Kopf noch / Fluss.“ – und zwischen beiden öffnet sich die „Wunde“ ohne Anführungszeichen, ohne Zeichen. Was im Zeichen steht, das Evidenteste zumal, die Sonne, scheint zu »scheinen«, das Äußerste und Innigste wird zur Oberfläche eines Anscheins und damit Sinn(es)täuschung. So auch ein Jetzt, das im »Immer« schmilzt wie ein Stück Eis im Meer.
Von Eile zu „Weile“ – wie Bruder zu Schwester. Zwischen den Gegensätzen – der Balken im Auge, der Bruchstrich trennt Zähler und Nenner, Wort und Namen: „.. und // schwarze Löcher reklamieren / Namen, Drin / zu verschwinden wie // um ein Haar / und ewig um ein Glück / zu spät.“ Auch hier rückt der Zeiger – von Stillstand zu Stillstand springend, zwischen Sprung und Sprung stehend – dem Namenlosen, dem Glück entgegen, das er in Acht und Bann stehend ganz knapp immer, ganz knapp – verfehlt, nicht und nicht einholt – „ewig“ und zugleich „um ein Glück zu spät“ kommend. Fast – fast.
So gelangen wir im Hüpfschritt zur „Letztzeit“ – die „Acht“ fast aufgegeben, weil „gealtert alle PrACHT. VollbrACHT / fast. ACH lass..“. „Fast“ heißt auch „Zufall bis / zum Gehtnichtmehr“ – also „Zusammenfall“, wenn „M-ACHT auf Knochen geht“. Wenn die liegende „8“ – also das „Immer und Ewig“ – eine Machtfrage wird, und eine des Machens, dann nutzt es auch nicht mehr, auf „große Namen zu schwören“. Daß unter diesem Ewigkeitsaspekt plötzlich die Brücke über die „Drina“ ins Bild tritt und – wie man sich denken kann – auf dem TV-Schirm zerstäubt, läßt wieder „Asche“ regnen in die Televisionen.

Schließlich und endlich – brucknerhafte Finali. Eine Symphonie aus Entspielen: „Schlussfiguren“. Die nochmals zitierte „Schwere“ steht im Nachhall der „Schwester Leben“ (nach Pasternak), mit der das Schreiben seinen Inzest treibt: Alles / Nichts, Erde / Mond, Wort / Zahl – alle Gegensätze springen auf, bleiben offen: „Aus fast allem / wird soviel wie nichts.“ – wieder ein „Fast“ und kein „Fest“, nichts Festes: „.. Was das Wort // fällt macht die Zahl nicht geringer“, wenn ein Wort „fällt“ – also zur Sprache kommt, kann es auch „fallen“, also im Schweigen verenden. „Während das Alterchen von gestern / … / aus dem Bild hüpft. Und weg ist’s.“ Die „Alten vom gestrigen Tag“, die prophetischen Apokalyptiker, entpuppen sich als Springfiguren eines Nabokovschen Schatten- wie Lichtspiels, die nicht merken wollen, daß sie bloß dem Bühnenfundus entstammen. „Im Anfang steht gesperrt /  T h e  E n d. Was dauert!“ und dieses Finale ist ebenso auf die Kulissen aufgepinselt, wie die Sonne und ihr Scheinwerfer, der nur noch ein „So? Nee!“ provoziert. Des zarten Cincinnatus Ende am Richtblock, wie es Nabokov zeichnet, wird inszeniert als Hin- und Zurichtung des Falschen, denn das Henkerbeil trifft zwar den Nacken, bringt aber zugleich die Kulissen der Schaubude zum Wanken, auf der das Endspiel abrollt. Daß der Schädel vom Beil springt, „dass / so etwas wie Ich klanglos untergeht / und aber zum Beispiel // die Sonne bleibt und scheint.“ – das ist der Skandal: So nicht! Wenn schon der Mantel fällt – der Vorhang – dann auch gleich der König. Der „Sieg über die Sonne“ im Zeichen des neugeborenen Erd-Sprach-Körpers bei Malewitsch und Chlebnikov – vielleicht verspielt? Sollte der „Sol invictus“ seinem Namen gerecht werden – oder aber als Sonnen-Schein bloß »scheinen« und ein Schein-Ende inszenieren, eine Pseudobotschaft „Prophetisch“ vorspiegeln – oder aber gar als Pseudoprophet auf die Bühne treten? Jetzt aber insistiert ein anderer Russe, aus dessen „Mantel„ alle spätere russische Prosa gekrochen ist – der Träger der Doppel-Null im Namen: Nikolaj Gøgøl, Autor des Namen- und Nasen-Los, wie in der gleichnamigen Nase, wo der Held dieselbe verliert und auf ihrem angestammten Platz eine „Leerstelle“ gähnt – die reinste Nullität und Projektionsfläche für alles und Nichts: „Wen hat das Nichts / mit Fragen nicht versucht. So / wie die Null im Zentrum // des Ges-ICH-ts..“, in dem das „N-ICH-ts“ prangt, „tabula rasa“ – so dann zur Wüste ausgeweitet, durch die der Dichter als Prophet schreitet – und scheitert. So auch Gøgøl auf dem Weg vom „poeta“ zum „vaters“, vom grotesken Sprachkörper zur asketischen Sprachentleibung: „.. der Rufer ruhig und // bestimmt die Wüste / macht. Kaum / zeigt er seine schwarze Zunge // wird er gefasst und / augenblicklich beigesetzt.. / … / (Als klumpiges / fleischfarbnes Wort weckt er / die Erde zur Zeit.)“
Nicht anders zur Stunde des Pan, im „Mittag“ der Endzeit: „In jedes Gesicht tritt / jetzt die Null. / .. “. Die Wüste ist nun ganz Himmel, ganz Auge: „Jetzt schlägt / der immer gleiche Himmel / ein Aug auf // und hat / was er sieht schon / vergessen.“
Sehen heißt hier löschen, der Seher ist Löscher, die Sonne Schein, das Gesicht – Null, das „Curriculum“ – ein Auslaufmodell, dessen Schick- und Rinnsal eine bloß schmale „Spur“ hinterläßt: „… wäre ihre Spur / mein Weg.“. Mit dem Prophetentum ist es mehr ein Aufhören als Anfangen: denn was man in den Himmel hineinsieht, als das tönt’s zurück: „.. Was / da und dort vom Himmel / fällt ist das // von mir Erspähte.“ Der Seher wird zum Schein, wo er diesen vom Himmel liest, Spurenleser, auch S(t)ammler von Signaturen und Autogrammen verblichener Namen, bevor er schließlich alles (so Gogol) „der Asche anvertraut“: „Endlich Mutter! ruft / sie mir den kalten Hagel / auf die Stirn.“, „had she spoken to me before dying..“.
Noch ein Finale – „Nein“: „.. Und / wo der Schuss eintrifft ist für / immer das Ziel. Zuviel // statt nichts..“. Das Schließlich und Endlich ist nicht der Ziel- und Fluchtpunkt, in den der Schuß trifft, weil dort und nirgends anderswo der Endpunkt prangt: Das Ziel ist immer und gerade dort, wo der Schuß landet (egal wo, im Nirgendwo): im Nichts. Nur dort sitzt er richtig. Der Schuß trifft ebenso sein ureigenstes „Ziel“, wie Kafkas Mann vom Lande sein Ziel, seine „Tür“ durchschreiten hätte können, wenn er sie als die nur ihm Zugeschriebene angenommen hätte. Wenn es nur einen, den unverwechselbaren und einzigen Lebensweg – „Curriculum“ gibt, dann auch nur ein Ende, ein Ziel – und das ist »immer« und immer das richtige, weil einzige. Erster Platz im Einer-Bewerb. Ein jeder Schuß ein Treffer, eine jede Kugel im „Zero“- in dieser Stunde des Pan, „wenn / in der hohlen Hitze blöd / die Sonne dröhnt. / Wo jedes Ereignis das einzige // ist. Und / niemand drin geübt / bloss ich zu / sein.“ In einer Welt der Eindimensionalität gibt es nur Punkte – unikale Ausgangs- und Endpunkte. In dieser Welt bedeutet, zu sein, „bloss ich zu sein“, da es eben nur den „Einzigen als sein Eigentum“ geben kann. Als Anderer der Anderen.
Das Gegenbild – im „Spiegelstadium“ – entspringt dem „Cogito“: „Endlich bin / ich in einem Augenblick / nicht. Herrlich / schon gar nicht statt // denken.“ Das Ich entspringt dem Hiatus – „in einem Augenblick“ – als N-icht, das Sich sieht sich im Spiegel vampirisch als Nichts. Eine andere Ein-Sicht kommt aus weiblichem Munde – „.. So ist / sagt Julia / das Leben.“ – „Das tote Meer“, das verheißene, „ist das wärmste“ – „mit süsslichem Salz“: ungenießbar, „zum Sterben / zu fad. Also bin ich’s.“ In diese Salzwüste verwiesen bleibt vom „cogito“-Ich, das sich im Nicht(s) spiegelnd und findend verliert – ein fades Ich, das bleibt, weil es – Ahasver wiederholend – sterbenslangweilig ist, so lang-weilig, daß es der Tod gar nicht einholt – der ersehnte. Es ergäbe ein falsches Nicht-Sein, dessen Ende eine Erlösung wäre – auch zum Sein.
Und dann nochmals – die Doppelung der 0 + 0 zur Acht, zur Todes- und Lebensschleife um die doppelte Leerstelle: „.. Dass / Nichts mehr als // Alles ist.“ („Haft“) – will heißen: Daß es Nichts mehr gäbe auf der Welt als eben Alles – oder aber: daß das Nichts, das Große Nichts – mehr wäre als Alles, mehr wert und viel mehr. Wenn das Meer bloß ein Mehr wäre, dann wäre es ein Vieles, eine zahlbare Vielzahl, nicht Alles, sondern Allerlei. Das rote Meer, das schwarze Meer – nun, aus der Sicht der „Haft“ – „stellt sich wer das gelbe / Meer vor und // das Velodrom / der Brecher.“ Neben der in Unendlichkeit umkippenden Endlosigkeit teilt das End-Los auch das Schicksal des Namen-Loses. Das Undenkbare – Carrolls Lächeln der verschwundenen Katze trumpft als Wort auf, wo das Ding zwar sag- aber nicht machbar ist: „Wie ein blitzendes Gewinde das / die Mutter sucht. / .. “, die Schraube – mutterlos, die Spirale ohne Gebärmutter, die Doppel-Helix, die Achterbahn der gegenläufigen Spirale – all das ruft als Todes- und Geburtsschrei (nach) der Mutter und im Namen des Vaters: „Nein! Ruft’s aus nächster // Ferne. Schrei / und Namen sind an Ostern / eins. Geraten / exponentiell vom Rand / her ins Fatale. / Bis die Schwelle stimmt. // Das Jawort / schrillt. / Und ohne Reue.“
Name und Schrei – diametral einander am fernsten und am meisten gegenüber – bilden mit ihren Rücken an Rücken die Schwelle, die einmal Mitte, einmal Rand, einmal Quelle, einmal Mündung, einmal Alpha, einmal Omega sein soll: Aber sie muß solange verschoben (hinausgeschoben) werden, „bis sie stimmt“: Nicht der Schütze muß den Lauf bewegen, bis Kimme und Korn mit dem Ziel- und Endpunkt verschmelzen: dieser muß solange wechseln und weichen, bis er – endlich paßt: der Einzige und der Richtige: „Das Jawort / schrillt“, alles ist auf den Punkt gebracht: „Vollbracht“.
Als Fabula hat das Lebens ein Ende wie andere Geschichten auch – „wo Triftiges eintritt und / den Zufall fällt. / .. “. Der „gefallene Zufall“ ist eben nicht endgültig, wie der gefallene Vorhang, er ist ein beendetes Ende, vielleicht jenes Ostern, da „der Tod durch den Tod besiegt“ wurde. Innerhalb oder außerhalb der Anführungszeichen des Lebens – wo ist der „H-und begraben“? – „Wie nach dem Punkt der Hund / lebendiger [also mehr lebens-endiger] begraben / ist. Und eigentlich immer / zu früh..“, wenn schon im „H-und ein „Und“ steckt, das ihn nicht enden läßt.
Noch ein Finale erprobt sich am griechischen Grabspruch – „.. Ich werde / nicht sein“ – am Futurum exactum des „Sag“: als eigentlich Unsagbares einer „langen Nacht“ – „Und keiner da der das jüngste / Gerücht (dass wir noch am Leben sind) signiert.“ – auch eine „Signatur“, nur eine Pointe statt Schlußpunkt, eine Unterschrift als Todes-Selbst-urteil.
Schwanengesang – und „keine Nachtigall die jagt / aber manche schlachtet am Rand // der Natur das fertige Lied aus..“ („Leben“) – das Nachher, der Nach- und Schlachtruf – zu Lebzeiten: Selbstverdauung, das schlimmste „post festum“, wenn der „ewige Vorrat an // Fehlern verspielt“ ist, wenn vom „Leben“ die Nachrede bleibt, das Nach(t)wort – „Perfekt“ zu sein, also fertig auch mit der Sonne, die ohne Schein „auf den Knien geht bis / die hiesige N-ACHT sie empfängt. Das erste // Licht lässt Unverständliches sich selbst / verstehn. Wie Go-lem Lehm / und wie ich m-ich.“.
Wenn also das Ich im „m-ich“ selbst-verständlich wird, wie der „Lehm“ im „Go-lem“ greifbar, zeigt sich die Unter-Schrift als Eingeschriebenes in all den Anderen Gedichten – das Nichts nichtet, die Acht achtet: „Doppelt zu ACHTEN! Ist die Null / aus einem Guss. Ist / Nichts Enthalten oder Sein..“ („Geviert“), ist Nichts enthalten als In-Schrift, Engramm in allen Namen – oder ist nichts enthalten – also leer, oder ist im Enthaltenen „Nichts oder Sein“ – also beides in einem: „.. Ein- // schneidend bleibt / zwischen beiden der Schrei wo / das Vergessen // beginnt..“, schmerzlich klafft zwischen 0 und 1 – der Schnitt, der Schrei, nicht der so oft aufgesetzte „letzte Schrei“ à la mode, sondern der entsetzte, wo das Erinnern abbricht und das Vergessen einsetzt, ins Schloß fällt: „.. Und lassen leise / klackende Scharniere // auf die Not der Übersetzung / schliessen“, zwischen Hier und Dort, zwischen der „Quelle“ des Textes und der Zitathaft: „.. Liesse / sich wenigstens die Quelle // finden die die / beiden über das Dort hinaus / trennt. Statt immer // nur Syntax und Summen.“ Von der Syntax zum Über-Satz, ein Styx-Fluß zum Über-Setzen, Damm und Schwelle zum Über-schreiten – die ewige Differenz als Quelle, die trennt: die Quellenangabe, aus der sich all der Redefluß ableiten ließe, der Quelltext müßte es sein, der zur Sprache kommt – nicht das stumme Summen, das namenlose Rauschen im Kanal.
Derselbe Fluß – heraklitisch zweimal durchschritten, nochmals: diesmal „Negiert“: „Einfach zu ACHTEN. Ist die Null / im Liegen doppelt..“ So geht es los wie im Durchgang zuvor – und doch anders. Man geht nicht zweimal durch denselben Fluß: Diesmal die Null nicht „aus einem Guss“, sondern „im Liegen doppelt“ – also die Endlosschleife der ACHT. Wo vordem „Nichts“ stand, füllt sich nun „Alles“ auf: „Ist / alles Enthalten oder Sein.“, ist alles entweder ein „Enthalten“ (Innehalten und Versagen, Verweigern) oder aber ein „Sein“ (das nicht vor-enthält). „Eindringlich stockt / zwischen beiden der Schrei wo / prompt das Vergessen // gelingt..“, nun nicht mehr Todesschrei, sondern – vielleicht – Freudenschrei, daß es gelingt – das Vergessen?
Negiert „Negiert“ – „Geviert“? – oder sind es zwei Varianten eines einzigen Quelltextes, zwei Übersetzungsproben, Zwillich-Texturen, die den Urtext nur zusammen flimmernd (h)ergeben? Nun ist das »zwischen« zum »zwi- / schen« gebrochen, statt einschneidend aber nun ein-dringlich: die „Scharniere“ fungieren als „klackende Konjunktionen“, die das „Da und Dort“ ins Schloß fallen lassen: „Wäre wenigstens / die Quelle zu finden die // die beiden über / das Dort hinaus eint“ – und nicht mehr wie vordem: „trennt“.
Und dann – das Finale von vorher: „Statt immer // nur Syntax und Summen.“, jetzt aber: „Statt / immer nie // Enden und Summen.“ Was sich gleich bleibt in diesem und jenem Text – ist die Unerreichbarkeit der Quellsprache des Dort, die sich nur in matten Abglanz des hiesigen „Summens“ übersetzen läßt. Nun aber – statt des eindeutigen „immer nur“ – das „immer nie“, und statt „Syntax“ – „Enden“: Hätte ich die Quelle, statt immer dieses „Nie-Enden-Können“, statt dieses endlose, satzlose „Summen“. Mehr noch: Könnt ich doch enden, nicht mehr Ahasver sein – dann gäbe es kein Dann mehr, dann gäbe es nur Meer. Oder weniger.
„Zuletzt“ doch noch Zitat, also Puschkin: „Kanjèz! Wie klangvoll ist dies Wort..“, „Kanjèz“ als Klangbild wie „So? nee!“ – ein „Kann-Jetzt“? Kann jetzt – „zuletzt“ – Schluß sein, das Endliche enden? „Kann jetzt! Das ist das schönste / Schlusswort überhaupt. Du / kriegst es schwarz / auf weiss gesagt. Wie Schweigen. // ..“ „Schwarz auf weiß“ – im Quadratblock der Nachttypus (Malewitsch), klar und deutlich auf die weiße Tabula rasa gedruckt – typographisch Schweigen – dann phonetisches: „Diktat direkt aus dem / Organ das sich beim Reden lautlos / selbst erfindet..“. Schrift und Rede – beide entspringen dem Organ (ist es gar die Quelle von vorher?) – indem sie selbst sich löschen (lautlos), indem das Organ als Ursprung sich selbst permanent er-findet, aus sich heraus fließt? Oder aber: „Findet’s – ah! – / Anklang bei Kindern // und künstlichen Tieren. Was bitte / gilt..“ – hier eine Frage ohne Fragezeichen – also: Feststellung: „was also – eben so – gilt“: das Alte Kinderspiel der Gleichklänge als Gleichsinne – der alte „Kukuck“ der Poesie und Zaubersprüche, aus denen gleich „der Mensch“ entspringt – als Kugel-und Doppel-Null- nunmehr im Spie(ge)l vereint: „Der Einfachheit halber / seien Kuh und Kugel eins. Stellen wir uns / mal – so! – den Menschen vor.“ Das Wort „kanjèz“, das Wort der Fremdsprache „kann jetzt“ über-setzt werden: endlich auf Deutsch – „Ende“.

Wozu dann jenes „Postum“ auf S. 113? Soll das Ende-Schreiben nicht und nicht gelingen? Oder geht es – wie im Klangbild zuvor – bei „Postum“ um „Post-um“, um „za-um“ der russischen Transrationalen? Waren wir am Rede-Ende oder immer noch in den End-Reden – die gerade dazu dienen, das Ende hinauszureden. Denn wo geredet wird, da wird nicht geschossen: „Dich unter der Erde / zu grüssen. Mit / welcher Stimme und / mit wessen Blick!“ – das ist auch keine Frage, sondern staunender, nicht einmal klagender Ausruf: Denn der Anzuredende liegt schon im „Ungemeinen“, „das / Gesicht – deins // meins – bleibt bloss / an dem was nicht Gesicht / ist zu erkennen. Zu / erkennen von wem.“ Wieder – keine Frage, kein Fragezeichen. Bloss Punkt um. Und zwischen „deins // meins“ – die Leerzeile zwischen den Zeilen, den Strophen: da steht der Nachrufer in eigener Sache: „Da // jeder durch den andern / wandert bis zum / ersten letzten Gericht..“. Da – dann die weiße Pause, das Zwischenfeld: wo die Spuren dorthin und hierher laufen und „meins“ durch „deins“ wandert – und vice versa: Wildwechsel, Gesichtwechsel, Blickwechsel, Wortwechsel, Sprachwechsel – Un-Summen von Wechseln.
Und aber dann: „Der / Gruss kommt immer // hinterher.“ Zu spät? Vielleicht. Oder so: es ist das Wesen des Grußworts, des Wortes überhaupt, daß es als Nachwort zum Vorwort wird. Oder: alles Sagen ist – hinterher, nachträglich, um nicht nachtragend zu sein.

Aage A. Hansen-Löve, manuskripte, Heft 159, 2003

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Christine Lötscher: Es braucht Dunst, damit man Klarheit hat
Tages-Anzeiger, 16.10.2002

Martin Zingg: „Soll ich sagen das Vergessen ist / mein Fest“
Basler Zeitung, 20.6.2003

Wulf Segebrecht: Vom Klacken der Konjunktionen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.9.2003

 

Ach, was für eine / Schrecke sprengt das Dunkle /

Selbstgespräch / des Stroms

– Zu neuen Gedichten von Felix Philipp Ingold. –

Der Schweizer Russist Felix Philipp Ingold ist ein poeta doctus von hohen Graden. Seit vielen Jahren hält er uns mit luziden Essays, eigenwilligen Übersetzungen und vielstimmiger Prosa – am aufregendsten Haupts Werk – in Atem. Mit Gogol, Mandelstam, Brodskij und Ajgji, mit Foucault und Ludwig Hohl steht er auf vertrautem Fuß. Ein Band, das dieses breitgefächerte Werk zusammenhält, ist die Lyrik. Die extrem kunstfertigen Sonette von Unzeit standen am Anfang des lyrischen Schreibens, in den letzten Jahren sind wieder Gedichtbände in dichter Folge erschienen, in denen es F.Ph. Ingold bis zu jenem Grad gebracht hat, wo das Virtuose scheinbar beiläufig erreicht wird, wo das Einfache komplex wirkt und das Komplexe einfach, wo Lakonik und Leichtigkeit uns immer von neuem überrumpeln. Wir finden wieder Halt, doch unsere Füße auf doppelten Böden, unsere Augen auf halbem Weg zwischen Herz und Welt.
Wenn wir genauer hinsehen, wenn wir diese neuen Texte – Teil eines Buchprojektes mit dem Arbeitstitel Jeder Zeit – drei-, viermal lesen, dann entdecken wir hinter List und Laut die großen altehrwürdigen Themen der Poesie: die Flüchtigkeit von Subjekt und Anschauung, die Vergänglichkeit, die Sterblichkeit des Menschen:

Ewig Not an Men
und Schen solang
Lemuren Uhren sind die rückwärts
gehen.
(in dem Gedicht ,,Außen“).

In „Gelichtet“ wird das Thema der Jahreszeiten, des Wechsels und der Flucht durchgespielt. Aber auch im Vergehen ist Halt.

Jetzt
wo er sich auflöst wird der Kondensstreifen
am leereren Himmel Schrift.

(in „Erinnerung“).

Die Sprache selbst ist immer prekär, zu lesen und doch nicht ganz zu lesen, zu kombinieren und doch nicht ganz zu verstehen, doch sie „franst / langsam aus in deutlicheren Sang.“ Unerschütterlich ist der Glaube in das Gedicht. Selbst wenn wir Welt verlieren müssen (in „Zoff“), wenn es gar nicht mehr anders geht, so doch „niemanden sonst“ und vor allem nicht die Sprache.
Vieles, was Felix Philipp Ingold bisher geschrieben hat, zeichnete sich durch ein bald ironisches, bald ernstes Spiel aus, das er so verfremdete, bis es paradoxerweise sein eigenes wurde. In diesen neuen Texten ist das Spielerische geblieben, der Ernst hat aber zugenommen, auch das Dunkle. Mit „Dunklem“ meine ich nicht nur das Hermetische, das durch Ingolds Luzidität ja eher leuchtet, sondern ganz direkt auch: Melancholie und Trauer. Das Leben nimmt ab. Es wäre wohl zu statisch ausgedrückt, würde man sagen, die existentielle Dimension sei in Ingolds Gedichten versiegelt oder in ihnen aufgehoben. Sie ist da, sie ist sprunghaft, sie fällt den Worten ins Wort, stolpert und richtet sich wunderbar wieder auf. Ein Spiel eben doch.

Joachim Sartorius, Sprache im technischen Zeitalter, Heft 162, Juli 2002

 

Zur Poetik Felix Philipp Ingolds

− Anläßlich der Verleihung des Ernst-Jandl-Preises 2003. −

Es ist vielleicht Verlegenheit, die mich von einem Gedicht Felix Philipp Ingolds ausgehen läßt, angesichts seines umfangreichen Werks, es ist aber auch die berechtigte rhetorische Hoffnung, daß sich im Teil das Ganze zeige, daß sich an einem Gedicht die Fragen und Themen eines ganzen Werks zumindest ansatzweise aufzeigen lassen.
Ich lese also ein Gedicht Felix Philipp Ingolds aus seinem letzten bei Droschl erschienenen Gedichtband Jeder Zeit – andere Gedichte:

KEINMAL

Halt’s wie den Kiesel
das Eis und. Oder
das Ei den Keim. Ins
Geheime lügt

das Licht. Kein Lugen
hat noch Grund.
Kain also trägt auf
Schultern Abel

tot. Dort ist auch die
genauere Not und
wo der Nabel sitzt der
eine Richtung gibt.

Ach Sorge geht immer
stromauf und
nimmt die Brücken mit.
Mit
ohne Figuren

ist das Bild viel heller.
So schnell hilft
aber nichts über Tat-
sachen hinweg

und zur Quelle zurück.
Und überhaupt
weiss in jenen Breiten
keiner wie’s hallt.

Es ist unmöglich, beim Gedichttitel „Keinmal“ nicht an das sprichwörtliche Paradox Einmal ist Keinmal zu denken, in der Alltagsrede dazu benützt, Bedenken zu zerstreuen, zu einer Tat zu überreden, anzustiften, oder – und hier wird es poetologisch wie epistemologisch relevanter – um die Bedeutung von Wiederholung herauszustreichen. Wie der Einsatz des Alphabets selbst beruhen viele der in der Dichtung eingesetzten Figuren auf Wiederholung, so die Abweichungen vom gewöhnlichen Sprachgebrauch wie Reim oder Alliteration, aber auch Semantik, die Bildung von Bedeutung oder Sinn, ist ohne Wiederholung undenkbar – man denke an die unverständliche, nur einmal vorkommende Bezeichnung, an das Hapaxlegomenon, an Kafkas Odradek. Die sechs Strophen des Gedichts „Keinmal“ werden von der klanglichen Wiederholung Halt – hallt umklammert, – das zusätzliche l ist kaum zu hören −. Solche Homophonien gehören zu den poetischen Mitteln polyphoner Sinnbildung.
Die an Mallarmé, einem festen Bezugspunkt Ingolds erinnernde poetische Negation, das mit einem Buchstaben verneinte Einmal, ist eine Homophonie zu dem mit ai geschriebenen Kainmal oder Kainsmal. Das Gedicht bestätigt diese Doppelbödigkeit schon in der zweiten Strophe mit Kain, der Abel tot auf den Schultern trägt. In der Erzählung der Genesis verflucht und verjagt Gott Kain wegen des Brudermordes und versieht ihn mit einem Zeichen, das ihn davor schützen soll, während seines Umherirrens getötet zu werden. Die moderne Bibelforschung deutet es ethnologisch als Zugehörigkeitszeichen eines Stammes, der strenge Blutrache übt. Nach kabbalistischer Interpretation und verallgemeinernder Umkehrung ist es der dem Menschen auf die Stirn geschriebene Buchstabe, der ihn zum sterblichen Wesen stempelt.- Kain ist übrigens im Gedichtband Jederzeit nicht nur einmal Thema, schon drei Seiten weiter findet sich ein Gedicht mit diesem Namen betitelt, wie auch in früheren Werken das biblische Brüderpaar für Ingold archetypisch gilt: So lautet eine Notiz in „Freie Hand“: „Weitsicht. – Die Welt … wie sie ist. Und für Kain noch immer kein Erbarmen. Aber Abel. so bleibt alles beim alten.“ −
Das Wort Keinmal sinkt in die erste Strophe; es erweist sich als Zeichenspender für das mit gleichen Buchstaben anfangende und endende Wort Kiesel, für Ei und für Keim, ja die ganze Strophe, das ganze Gedicht scheint aus dem Gedichttitel zu quellen, wie eine musikalische Invention, die sich aus ihrem Thema entwickelt. Der sich aus einem Wort, aus dessen Zeichen generierende Text soll sich logischer Herleitung verweigern; in der ersten Strophe des Gedichts wird dies betont durch das unvermittelte Gegenüberstellen der logischen Grundpartikel und. Oder, die durch einen Satzabbruch voneinander getrennt sind. Mit dem organischen Wachsen des Textes aus dem Schriftbild, Ei und Keim sind die biologischen Entsprechungen, stellt sich ein poetologischer Bezug zu einem Namen und zu einem weiten Feld in Felix Philipp Ingolds Schaffen her: zu Michel Leiris und zum literarischen Übersetzen, das Ingold als paradigmatisch für das Schreiben überhaupt versteht. Leiris hat seine vom Wort ausgehenden, durch permutative und kombinatorische Techniken gewonnenen Texte zu Glossaren verarbeitet, die mit dem Textyp der Worterklärung spielen. Zu dem letzten dieser Glossare Souple mantique et simple tics de glotte hat Ingold eine sich am Laut orientierende Übertragung vorgelegt: Suppe Lehm Antikes im Pelz tickte o Gott Lotte. In seinem Essay „Übersetzung“ als poetisches Verfahren schreibt Ingold über solche sogenannten Oberflächenübersetzungen und verbindet die Poetik Michel Leiris’ mit den Poetiken des Dichters, von dem der Preis, um den es heute geht, seinen Namen hat:
In der deutschsprachigen Gegenwartspoesie hat wohl nur Ernst Jandl das Prinzip der intralingualen Übersetzung mit vergleichbarer Konsequenz durchgehalten. Schon Jandls erste größere Einzelpublikation, Laut und Luise, enthält fast ausschließlich poetische Originalübertragungen nach vorgegebenen, meist sehr kurzen, oft dem „Volksmund“ entnommenen Texten.

Ingold geht im weiteren Verlauf des Essays auf die poetischen, die Bedeutungen zugunsten von Sprachbewußtsein aushebelnden Techniken Ernst Jandls näher ein, zum Beispiel:

Eine andere Horizontalübersetzung wiederum…, die zu zweisilbigen weiblichen Substantiven mit den Halbvokalen ü, ö, ä im Stammbereich jeweils eine einsilbige männliche Entsprechung bildet, vermag auf geradezu schwindelerregende Weise darzutun, wie durch minimale Verschiebungen auf der Wortebene der Wortlaut von der konventionellen Wortbedeutung abgekoppelt werden kann:

der blut
die blüte

der bruck

die brücke

der buhn
die bühne … der tuck
die tücke

der tut
die tüte

der wust
die wüste

Wenn man will, kann man in dem Wortpaar lügt/Lugen, das die erste und zweite Strophe von „Keinmal“ an den Versenden verbindet, eine Abwandlung der eben zitierten Horizontalübersetzung Jandls sehen; ein Strophenlegato wie in „Keinmal“, das die sechs Strophen in Dreiergruppen bindet, ist für Jandls Verknappungen untypisch.
Das Wort Kiesel hat nicht nur palindromische Qualitäten, – die letzen vier Buchstaben von hinten gelesen ergeben lese −, es ist auch symbolisch besetzt, von der griechischen Mythologie, die den Kiesel Hermes, dem Gott der Dichter und verschlüsselten Botschaften, und den drei Musen des Parnass, den Thrien, zuordnet. Weil Apollon vom Flötenspiel des göttlichen Hirten und Viehdiebs Hermes betört gewesen sei, habe er ihn als Gegengabe für dessen Flöte zu seinen Ammen auf den Parnass geschickt, damit er dort die begehrte Kunst lerne, aus Kieseln weiszusagen. Wer aus Kieseln weissagen will, muß wohl an das Heraklitfragment glauben, daß ein Haufen zufällig hingeschütteter Dinge die schönste Weltordnung sei; dieser Glaube ist verwandt mit dem poetischen, daß in den historischen Zufälligkeiten der klanglichen und buchstäblichen Zusammensetzung der Worte eine über ihren konventionellen Sinn hinausgehende oder einen körperlicheren Sinn erzeugende, entschlüsselbare Formel sich verberge.
Eine andere Assoziation zu Kiesel belegt eine Notiz Ingolds, der der Name Kain vorangestellt ist:

Kain. – Keiner wird mit einem Stein im Mund geboren; geschieht’s gleichwohl, so gilt, nach alter chinesischer Überlieferung, der oder die Betroffene als auserwählt zum Dichterberuf. Das Unmögliche als Gnade … die Behinderung als Antrieb künstlerischer Kreativität.

Der die erste mit der zweiten Strophe verbindende Satz Ins Geheime lügt das Licht spricht die hermetische Umkehrung der Verhältnisse, das grundsätzliche Mißtrauen gegenüber den Sinnen an. Das kompensierende Vertrauen auf die dunklen Ressourcen des Unbewußten, auf die Selbsttätigkeit der Sprache, in der sich die Homophonien funktionalisieren, in der sich das Lugen vom Lügen abspaltet, läßt Ingold den Autor für obsolet erklären. Hinter dieser Erklärung steht nicht nur das dekonstruktivistische Moment einer Postmoderne, die selbst schon wieder Opfer unzähliger Obsoleterklärungen geworden ist; das Werk Ingolds auf dieses Moment zu fixieren, hieße, dessen verborgene Dialektik zu verkennen, die sich oft erst in der Skepsis am Ende seiner Traktate offen zeigt – z.B. am Ende eines Aufsatzes zu Francis Ponge:

Vergelbliche Hoffnung; die Lücke zwischen Wort und Ding ist nicht zu schließen, das Fiat des ersten Autors nicht zu wiederholen. Auch bei Francis Ponge steht der Tisch, das Wortding bloß geschrieben.

− es hieße, Ingolds geheime Suche zu übersehen, die in all den intertextuellen und – positionellen Bezügen nach dem Ursprungs-Text fahndet, zur Quelle zurück will. Für seine Suchrichtung findet Ingold bei von ihm übersetzten Dichtern wie Marina Zwetajewa, Ossip Mandelstam, Edmond Jabés und auch bei Vladimir Nabokov Bestätigung, über den er unter anderem in seinen Versuchen über literarische Kreativität – Der Autor am Werk einen Essay geschrieben hat:

Bereits 1922 hatte Nabokov … angemerkt, wir – hienieden – seien nichts anderes als „die irdischen, idiotischen, zerknüllten Photographien“ der Jenseitigen, Unsterblichen; wohingegen dort – in der Antiwelt der Kunst – das eine Antlitz vorherrschend sei, der eine Tanz (statt hastiger Schritte), das eine Lied (statt lauter unverbundener Melodien), das eine Original (statt einer Vielzahl von Kopien).

Nicht nur im Wildern nach Zitaten, mit dem die klaren Revier- und Positionsbestimmungen unterlaufen werden, in denen literarische Auseinandersetzungen zu erstarren drohen, auch von wissenschaftlicher Seite läßt Ingold das Gegenspiel zu, das mit der Bestätigung des autonomen Strebens die Verunsicherung der eigenen Positionen einführt. In Poesie und Sprachstruktur, einem Referat und einem Interview Roman Jakobsons, die Ingold übersetzt hat, wird der Modellcharakter aller Arbeit an Sprache behandelt, an dem sich, wie an Ingolds Auffassung von kollektiver Autorenschaft bzw. von Sprache als Autor, die Regeln jeder wirklichen Förderung von Kultur ablesen lassen, allen voran die Grundregel, daß nur autonome Strukturen Integration ermöglichen, zu der auch die gelungenen Synthesen der Literatur gehören, daß Personalisierung und Selektion, die nicht auf den Spielregeln und inhärenten Bedingungen der jeweiligen Kunstbereiche, sondern auf politischen Klischees beruhen, verdeckte Zensur bedeuten, die kritisches Potential vernichtet und Kultur zu Folklore degradiert. Wenn wir hier in Neuberg, wie im Vorfeld der Preisverleihung suggeriert wurde, Exerzitien der Poesie halten, fehlt noch die Bußpredigt: Es war, um ein Beispiel für die derzeitige Kulturpolitik Österreichs herauszugreifen, die falsche Entscheidung, die Wiener Festwochen nicht pauschal zu fördern; es ist nicht wahr, dass – wie die Kunstsektion ihre späte Absage begründete – „es im Interesse der einzelnen Kunstschaffenden geboten ist, von einer Strukturförderung zu einer Förderung konkreter Projekte überzugehen.“
Zurück zum Gedicht. Kain und Abel sind mythologische Namen für eine männlich bestimmte, antagonistische Grundstellung. In dem auf diese Stellung abzielenden, die dritte Strophe ausfüllenden Satz Dort ist auch die genauere Not und wo der Nabel sitzt der eine Richtung gibt scheint nicht nur die Konjunktion und jener syntaktische Nabel, mit dem in diesem Satz der Gedankenlauf seine Richtung ändert, die genauere Not mit ihrem Binnenreim auf tot ist auch die allgemeine Not des Dichtens, nichts zu sagen zu haben, und deswegen die Zeichen mit den Gedanken spielen zu lassen, statt dass sich wie im diskursiven Sprachgebrauch Gedanken der Zeichen bedienen. Daher rührt auch die poetische Bereitschaft zur Richtungsänderung, die durch Lautassoziation von Abel auf Nabel stösst. Treibt man das assoziative Spiel weiter, so lässt sich mit dem Austausch zweier Buchstaben bei Erhalt der vokalischen Struktur von Nabel zu Namen kommen. In seinem Aufsatz „Sich einen Namen machen“, in dem er die permutativen und assoziativen Poetiken des Pseudonyms untersucht, schreibt Ingold:

Spekulative Sprachtheorien, wie man sie aus mystischen und magischen Zusammenhängen kennt, gestehen den Eigennamen die Qualität von Urworten zu, die im Unterschied zum ansonsten gebräuchlichen Wortmaterial die babelsche Sprachverwirrung schadlos überstanden hätten.

In einem anderen Essay suggeriert Ingold, daß das beste Pseudonym, der beste Name für den letzten, untätigen Autor, den kompilierenden Poeta otiosus das schlichte Pseudonym des listenreichen Odysseus outis – niemand sei. Unzählige Stellen lassen sich in Ingolds Essays und Gedichten finden, die sich auf die Namensfrage beziehen. So heißt es in seinem Gedichtband Nach der Stimme:

… Kein Punkt
ist innen
kleiner. Ausser Gott
der sich in allen Namen
wiederholt. Wie wir
ein Wort.

oder in Jeder Zeit – andere Gedichte:

Ja jagt
das Tier von dem es viel
zuviele gibt. Erlegt’s

was da in Horden ewig
pudert. Was
unter diesem oder jenem

Namen Ahnen-
reihen auftut und behauptet.

oder schließlich aus dem selben Gedichtband:

Heavy
Roses Grau in

Grau zurechtgedacht als
Tote Natur. Die
braucht übrigens kein Ich. Und

auch nicht mich.
In Gold ist dieser Name
längst vergolten.

Wenn man es den Namen als poetischen Mangel auslegt, dass sie nur benennen und nichts bedeuten, dass ihnen die Qualität der Verallgemeinerung fehlt, die für begriffliche Figuren wie die Metapher notwendig ist, dann hat Ingold mit seinem Nachnamen bedeutendes Glück, also das, was einer seiner Vornamen bedeutet. Die radikalste seiner Thesen, die den Autor und mit ihm alle Belobigungen verabschiedet, die sich auf ihn beziehen, findet mit dem Verweis auf die Etikettfunktion des Namens ihre reduktionistische Schärfe:

Wo also ein Autor an dem einen Welt-Buch mitschreibt, geschieht es „unwissentlich“; der Mensch hat keinen Anteil daran, sondern ist gleich schon, „ohne sich dessen bewußt zu sein“, Teil davon. Der Autor ist dem Werk weder vor- noch übergeordnet, er erschafft es nicht, vielmehr wird er von ihm erschaffen, er gehört ihm an in dem Maß, wie er darin untergeht – das Äußerste, was er erreichen kann, ist, daß sein Name mit dem Werk identisch wird.

Das Wort Richtung sitzt wie ein Nabel in der Mitte des Gedichts „Keinmal“, am Ende der ersten Strophen-Dreiergruppe. Wenn Nabel als Lautassoziation zu Abel die Richtung angibt, so sind es im ganzen Gedicht die Bedeutungen der Satzpartikel wie Ins Geheime, Dort ist, stromauf, über Tatsachen hinweg, zur Quelle zurück, in jenen Breiten, aber auch jene von Konjunktionen verdeckten elliptischen Satzabbrüche, die unvermittelten Gegenüberstellungen wie und. oder beziehungsweise das an Kindersprache erinnernde Mit ohne, jene logischen Cuts, die die Gedankenrichtung ändern. Der vierte und fünfte Strophe verbindende Satz Mit ohne Figuren ist das Bild viel heller läßt sich als poetologische Proklamation verstehen: Die elliptisch-logischen Verdichtungen und Sprachwendungen sind jene rhetorische Figur, die gegen die anderen, die Syntax ausschmückenden rhetorischen Figuren in Stellung gebracht wird, nicht nur, um der Wörtlichkeit der Rede zu ihrem Recht zu verhelfen, für die der Name paradigmatisch ist, sondern auch, um die Poetik der Zeichen ins Spiel zu bringen; wendet man eine prinzipielle Zuteilung Ingolds an, könnte man auch, sagen: um die Poetik gegenüber der Rhetorik zu stärken. Das viel hellere Bild bedeutet dann einerseits die von Wörtlichkeit hervorgerufenen, schärferen Konturen begrifflicher Bezüge, die nicht erst durch metaphorische Überlagerungen hervorgerufen werden müssen, es ist das hellere Bild des durch direkte Bezeichnung aktivierten, konventionellen Verstandesschemas, andererseits ist es das hellere Bild der momentan einleuchtenden, gewitzten Zeichenkonstellation, die mit minimaler Syntax ihr Auskommen findet, die Poetik der lettristischen Tradition, das sprachmaterialistische Arbeiten an Zeichenketten und Graphemen, wie sie als repräsentative Technik von Futuristen wie Marinetti propagiert wurde und heute bei Textern und Sprachdesignern von Werbeagenturen degeneriert.
Eine von „Mit ohne Figuren“ hervorgerufene Erkenntnis ist auch, daß ,ohne Figur‘ nur wieder eine Figur ist, daß also im System der Sprache der direkte Bezug nur eine facon de parler ist und alle Wörtlichkeit von versunkenen Figuren simuliert wird. Die Opposition von Bild und Tatsachen, wie sie die vorletzte Strophe von Keinmal auf den Plan ruft, gibt der semantischen Vielschichtigkeit des helleren Bilds einen neuen Dreh und Einblick in die sprachphilosophische Tiefe der Poesie Ingolds. Das Bild ohne Figuren ist nicht mehr der wörtliche Bezug, der auf die Identität der Tatsachen mit sich selbst setzt und ihre Flüchtigkeit, ihre Abhängigkeit von der Wahrnehmung ausblendet, es ist – nicht nur wegen der vier gemeinsamen Buchstaben mit Quelle – heller, weil es von den überflüssigen Produkten und ihrer fiktiven Wirklichkeit weg auf die Quelle verweist, die sowohl als die strahlende der neuplatonischen Lichtmetaphorik als auch als die produktive der Zeichenpoetik gedeutet werden kann, die dem, was tatsächlich auf dem Papier geschieht den Vorrang einräumt, im Glauben daran, daß die Zeichen den Schlüssel zu den Quellen aller Interpretation, zu den inneren Welten bereithalten. Zu diesen inneren Welten gehören auch die Hallen des Gedächtnisses, für die Augustinus soviel übrig hat, weil sie der einzige Ort seien, an dem wir uns selbst begegnen können. Dementgegen steht allerdings eine Gedächtnisdefinition Ingolds und sein schriftstellerischer Vorbehalt gegenüber dem Ich: „Gedächtnis. – Was ich … unverlierbar … weiß, ist das, was ich vergessen habe; also habe.“ … „Das Schreiben selbst, vermute ich, ist eine existentielle Lebensbewegung … die einzige authentische Geste des Ich-Tuns. Also braucht man nicht auch noch, um sich zu erklären, ,ich‘ zu sagen.“
So ist die Skepsis am Ende des Gedichts, die in jenen Breiten keinem ein Wissen zugesteht, zugleich ein Hinweis, in welche Richtung ein überwinden der Defizienz der Namen führen könnte. Wie im Wortspiel Nabokovs in einer alles vereinenden Identitätssuche der russische Ausdruck für „ich“: „Jah“ mit dem unaussprechlichen Namen Gottes in Verbindung gebracht wird, können, seien sie nun auf ein ich bzw. du hin zentriert oder polyphon entfaltet, alle fiktionalen und vorgefundenen Namen im Werk für den Autor stehen, während sein eigener dem Werk angeheftet bleibt, bestenfalls dazu geeignet, wie es in Der Autor am Werk mit Giorgio Manganelli einmal heißt, einer Straße im Geburtsort des Dichters einen Namen zu geben. Dieses abgeklärte Urteil über die Illusion von Ruf und Ruhm findet auch in Ingolds Gedicht „Ruch“ Niederschlag, das im Gedichtband Jeder Zeit auf der Rückseite des „Keinmal“ – Blattes steht:

RUCH

Die halbe Herrlichkeit
des Walds ist
ein Alter

und kein Ende haben.
Die Kiefern und
Arven in

unserm Bett sind Ruhm
genug. Sind genug.
Geh schlafen.

Mir lass die Strassen.

Benedikt Lebedur, manuskripte, Heft 162, 2003

 

 

Jan Kuhlbrodt: Versuch über Ingold
poetenladen.de, 28.10.2012

Jan Kuhlbrodt: Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der Chronologie

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Ulrich M. Schmidt: Das Leben als Werk
Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2012

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Magnus Wieland: Der Autor, der die Autorschaft hinterfragt
Berner Zeitung, 25.7.2022

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