Felix Philipp Ingold: Wortnahme

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Felix Philipp Ingold: Wortnahme

Ingold-Wortnahme

DASEIN

Ist die milde Gabe immer
jetzt. Entsetzt
was Namen hat und
auf sich schwört. Was stört
– sein Da! – ist
als Design so gut wie
unsichtbar und
gipfelt überall. Nur im Ruin
wird Ruhe ganz. Ganz
anders – aber nie –
glückt strahlend schwarz
und nah so etwas
wie ein Gott. Ein Tier wie
wir. Wo
Sprache als Strafe
gehört. Ist doch kein Schmerz
nicht beredt. Und
was berät tut immer bald
auch heissen. Am
leisesten der Schwur der sich
– als Rede reicht
ein Mund voll Erde weiter –
selbst verzehrt. So
zart gezackt die Schrift die
kurz aufblitzt und
den Verlust des Ganzen
sagt. Bloss
um zu enden wo alles
beginnt. Bei Krethi und Kain.

 

 

 

Mit „Wortnahme“

liegt von Felix Philipp Ingold eine große Gedichtsammlung vor, die nicht nur die Sprachkunst dieses Autors in ihrer aktuellen Ausprägung dokumentiert, sondern auch Einsicht gewährt in deren thematische und formale Entfaltung über einen größeren Zeitraum hin.
Zur einen Hälfte bringt der Band neue Gedichte aus den vergangenen drei Jahren (also seit dem letzten, viel beachteten Lyrikbuch „Jeder Zeit andere Gedichte“, 2002); zur anderen Hälfte versammelt er – in zur Chronologie umgekehrter Abfolge – dichterische Arbeiten unterschiedlichster Art, die bis in die frühen achtziger Jahre zurückreichen und deren Erstdrucke nun aus der Verstreuung neu „verbucht“ werden. „Wortnahme“ macht so frühere Texte von Ingold im Umfeld seiner jüngsten Versuche noch einmal – anders – lesbar.
Diese Retrospektive eröffnet auch erstmals den Einblick in Ingolds ebenso konsequente wie vielfältige Arbeit am Wort, sie lässt thematische und formale Konstanten, aber auch Bruchstellen, Verzweigungen, Varianten erkennen. Das Buch gibt einer dichterischen Rhetorik Raum, die besonders kunstvoll mit Figuren wie dem Paradox, dem Gleichklang, der doppelten Verneinung und der kühnen Metapher operiert. Eindrücklich ist die Vielzahl der von Ingold erprobten, oft auch strapazierten und eben dadurch produktiv fortentwickelten Gedicht- und Strophenformen – sie reichen vom anagrammatisch vertrackten Ein- oder Dreizeiler über die komplex gereimte fünfzeilige Strophe bis hin zum Sonett und zum mehrteiligen Langgedicht.
Formaler Reichtum und handwerkliche Strenge verbinden sich in Ingolds Dichtung mit weitläufigen literarischen Reminiszenzen, mit bisweilen ironisch unterlegten Motiven aus mythologischen, biblischen oder philosophischen Zusammenhängen, aber auch mit immer wieder neuen Einsichten, wie sie durch massenmediale News, durch Klatschberichte und Werbespots vermittelt werden, hin und wieder auch durch die eigene Lebenserfahrung, deren Wahrhaftigkeit von kleinen alltäglichen Wahrnehmungen weit stärker geprägt ist als von irgendwelchen großen Wahrheiten.
Felix Philipp Ingold lebt heute als Schriftsteller wechselweise in Romainmôtier und Zürich; zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehören die Essaybände „Der große Bruch“ und „Im Namen des Autors“ sowie die Gedichtbücher „Auf den Tag genaue Gedichte“ und „Jeder Zeit neue Gedichte“. Ingold erhielt u. a. den Petrarca-Preis für literarische Übersetzung, den Manuskripte-Preis des Landes Steiermark, den Grossen Berner Literaturpreis und den Ernst-Jandl-Preis der Republik Österreich.

Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2005

 

Nach der Stimme schweigen, schreiben

− Felix Philipp Ingold – Ein Schriftsteller von beängstigender Schaffenskraft Im vergangenen Jahr erschien „Im Namen des Autors“, ein über vierhundert Seiten starkes Werk. Darin versammelte Felix Philipp Ingold einige theoretische Schriften über Kunst und Literatur. Seit wenigen Tagen liegt nun sein neuer Gedichtband vor: Wortnahme – ein Buch von über fünfhundert Seiten… −

Felix Philipp Ingold ist ein Phänomen. Und wer ein Phänomen beschreiben will, scheitert unweigerlich; das Phänomen, auch als „Lufterscheinung“ zu übersetzen, erliegt entweder einer Aufzählung von Klischees oder aber es bleibt unfassbar … „Geballtes Schweigen“. Unter diesem Titel veröffentlichte Ingold 1999 als Herausgeber und Übersetzer eine Sammlung zeitgenössischer russischer Einzeiler. Im Jahr darauf folgte „Der grosse Bruch. Russland im Epochenjahr 1913“, ein nicht nur dickes, sondernd auch erhellendes Buch über eine Zeit, die kulturell, gesellschaftlich und politisch nicht nur in Russland bis heute nachwirkt.
Die Professur für Kultur- und Sozialgeschichte an der Universität St. Gallen hat der 1942 geborene Autor inzwischen abgelegt. Man könnte voreilig seine jüngste Schaffenskraft darauf zurückführen – der Emeritus hat nun eben mehr Zeit. Man könnte Ingolds Schreiben als manisch bezeichnen … zu vermeidende Erklärungen für einen, dessen Ernsthaftigkeit uns heute befremdet. Seine Spezialisierung sei das Generalistentum, sagte Ingold vor Jahren in einem Gespräch, vielleicht noch nicht ahnend, dass sich heute eine Vielzahl von Journalisten und Moderatoren eines Generalistentums rühmen, zu allem und jedem etwas sagen können und für jede Aufgabe einsetzbar sind. Der Unterschied freilich: Es gibt solche, die vorgeben, über alles etwas zu wissen, und dann gibt es jene, die sehr viel wissen und deswegen nichts mehr vorzugeben brauchen.
Als Gymnasiast besuchte Ingold Lesungen von Ingeborg Bachmann, zeigte sich beeindruckt sowohl vom Expressionismus wie auch von der Gegenwartsliteratur. Jahre später, der Student befand sich in Paris und absolvierte ein Auslandsemester, köchelte tagein tagaus ein Topf mit „Borschtsch“ auf dem Herd seiner russischen Gastgeberin. Und Ingold liess die Kunstgeschichte liegen und besuchte stattdessen einen Russisch-Intensivkurs – um danach zwei Jahre in Russland zu verbringen.
Wie wir fünf Jahre nach unserem ersten Treffen ein zweites längeres Gespräch in Zürich führen, wieder auf das Paradox als zentrale Denkfigur in seinen Gedichten zu sprechen kommen, über Zeilenumbrüche und Kippmomente reden, erinnert Ingold sich plötzlich wieder an Paris zurück, wie sich ein Mann – aufgrund einer Verwechslung – mit einem Messer auf ihn stürzte. „Auf der Klinge spiegelte sich die Strassenlaterne.“ – Eine Assoziation, ein Kippmoment … „damals dachte ich, jetzt ist es aus.“ Die Aufmerksamkeit für und die Erinnerung an solche Momente finden sich sowohl im Existenzbedrohenden wie in den kleinen Ereignissen des Alltags; Empathie und Verletzlichkeit des Dichters gehen Hand in Hand – Felix Philipp Ingold ist eine Durchlässigkeit eigen, wie ich sie sonst nur beim Lyriker und Maler Werner Lutz gespürt habe. Auslöser für ein Gedicht kann „alles“ sein, eine Zufälligkeit, eine Beobachtung oder eben ein Wort, das ein Geheimnis, eine Atmosphäre in sich birgt, das den Raum öffnet – und nach weiteren Wörtern verlangt. „Wortnahme“, der Titel des neuen Ingoldschen Gedichtbands ist mitunter so zu verstehen.
„Wortnahme“ ist allerdings nur bedingt aktiv gemeint, als Voraussetzung für ein Assoziieren, Denken, Schreiben. Ein „Einfall“ mag zunächst diffus sein und sich selbst nicht weiter erklären. Im Essayband „Im Namen des Autors“ zitiert Ingold Stéphane Mallarmé, der forderte, man müsse „die Initiative den Wörtern überlassen“. Wie Pasternak und Mandelstam versteht Ingold „das Rhythmische“ als eine „produktionsästhetische Kategorie“; die Frage des Rhythmus wiederum ist gekoppelt an das Erkunden „selbsttätiger innerer Turbulenzen, die durchaus chaotisch zu sein scheinen und dennoch bestimmte (wenn auch schwer bestimmbare) Schwingungsformen aufweisen“. „Wortnahme“ also hat folglich mit Klang zu tun, im Weiteren mit Stimme, einer Kettenreaktion auch, die sich dem eröffnet, der sie zulässt, eine Eigendynamik der Klänge und Wörter, die des allzeit „aufmerksamen Schlafwandlers“ bedarf, wie Paul Valéry einst den Dichter definierte. „Immer wahr der Klang“ – so lautete der ursprüngliche Titel von Ingolds neuem Band „Wortnahme“ …
Und vielleicht weil wir im Jahr 2005 wieder in Zürich beieinander sitzen, kommt das Gespräch auf Elias Canetti, der in dieser Stadt viele Jahre lebte und heuer seinen 100. Geburtstag feiern könnte. Ingold ist dem Nobelpreisträger einige Male begegnet, hat sich mit ihm und seiner Literatur auseinander gesetzt (siehe Texte in „Im Namen des Autors“ wie auch im soeben von Werner Morlang herausgegebenen Band „Canetti in Zürich“). Es mag ein Zufall sein: Canetti und Ingold teilen den Geburtstag. Mich befällt der Verdacht, dass ein ungeheurer Wissenshunger die beiden zusätzlich verbindet. Das Gespräch kommt auf Lichtenberg, auf Nietzsche, das „nicht festgestellte Tier“, plötzlich reden wir über Kafka, den Bau, den Hund …
Um seine Kräfte und Assoziationen zu bündeln, hatte sich Ingold für die vorangegangenen Lyrikbände („Nach der Stimme“, 1998; „Auf den Tag genaue Gedicht“, 2000; „Jeder Zeit“, 2002) selbst Spielregeln auferlegt: er verpflichtete sich dem Reim, dem Tag, einer bestimmten Anzahl von Zeilen pro Strophe. „Wortnahme“ lässt nun keine klaren Gesetzmässigkeiten mehr erkennen, der Band ist vielmehr die Synthese aus einer Vielzahl von Spielregeln. Ein Band auch, in dem sich sowohl neue Gedichte, wie auch Erstfassungen von bereits veröffentlichten Gedichten finden. Ein durchlässiges Fest an Überrumpelungen und Überraschungen hält dieser Band bereit. Erstaunlich auch, dass Ingold den neuen Band mit demselben Gedicht abschliesst wie er den Vorgänger („Jeder Zeit“) begann:

ICH
geh fort von dort wo
keiner war. Nur Transparenz und
also Fest.

Erstaunlich? Fraglos eine Referenz an die Bachmann, darüber hinaus aber auch eine Haltung, eine Poetologie, eine Existenz. Felix Philipp Ingold – ein Phänomen? Ja. Eine „Lufterscheinung“ dagegen nicht, viel zu sehr dreht sich seine Lyrik auch um Körperlichkeit, entspringt dieser: dem Atem, dem Fleisch. Mehr darüber nach dem nächsten Gespräch …

Markus Bundi, Beilage der Solothurner Zeitung, 30.4.2005

Lyrischer Bergmann in der Goldmine

− Der Schweizer Autor Felix Philipp Ingold schürft im Gedichtband „Wortnahme“ in den Schächten der Sprache und der literarischen Überlieferung. −

Wortnahme ist der Band überschrieben. In chronologischer Ordnung breitet Felix Philipp Ingold darin die lyrische Ernte eines Vierteljahrhunderts aus: ganz überwiegend bereits veröffentlichte Gedichte, die eingestreuten neuen und unveröffentlichte ältere füllten gesondert kaum zur Hälfte ein schmales Lyrikbändchen. So liegt das Buch schwer wie eine Werkausgabe zu Lebzeiten in der Hand – freilich eine auf den Kopf gestellte. Denn Ingold präsentiert seine Gedichte in rückläufiger Folge, von den jüngsten zurück bis zu den frühesten Poemen vom Anfang der Achtzigerjahre.
„Wortnahme“, der Titel erinnert an „Landnahme“. Sprache und Dichtung sind das Feld, auf dem der Homme de Lettres Ingold, u.a. Träger des Grossen Literaturpreises des Kantons Bern, schon von Berufs wegen agiert: als (inzwischen emeritierter) Kultur- und Literaturwissenschaftler an der Hochschule St. Gallen wie als Übersetzer, der er neben dem Lyriker, Erzähler und Essayisten ist. Und so wird sein lyrisches Reich nicht zufällig von zahllosen literarischen Figuren bevölkert.
John Donne und Joseph Brodsky begegnet man darin ebenso wie Marina Zwetajewa oder René Char (sie alle hat er, neben vielen anderen Dichtern, übersetzt). Und trifft nebenbei auf alte Bekannte wie Kafkas Odradek oder „Scarr… / … da? Nelli!“, jene stotternd benannte Kunstfigur, die der späte Hölderlin zwischen sich und die Welt schob. Das Stottern hat Ingold als hörbar gemachtes Stolpern über die vom knorrigen Wurzelgeflecht der Etymologien und Lautbilder überzogenen Pfade der Sprache in die Literaturgeschichte eingeführt. Selbstredend finden sich in den Gedichten auch poetische Zitate und Paraphrasen zuhauf: von Goethes Ruhe über allen Gipfeln bis zu Hölderlins Rettung, die aus der Gefahr wächst. Wer aus Wortkombinationen wie „Einsam / nie“ Benn oder aus „Sebastian / im Augenblick“ Trakl heraushört, dürfte goldrichtig liegen.
So sind diese Gedichte in erster Linie ein Dialog mit grossen Geistern der Gegenwart und Vergangenheit: Paul Wühr und Wittgenstein, Mozart und Keats. Sodann aber stets auch selbstvergessenes Spiel mit dem sprachlichen Material, wie schon Wortspiele gleich „angenommen / Agamemnon“ oder „heiteres Scheitern“ deutlich machen. Zunehmend hermetischer aber will erscheinen, was Ingold aus den Goldminen der literarischen Tradition und unterirdischen Schächten der Sprache zutage fördert. Selten bietet uns dieser lyrische Bergmann und Dialektiker der Sprache, der in jedem Ding stets sein Gegenteil mitdenkt („immer nie“ ist eine stehende Floskel), seine Funde geschliffen in Reimen oder in kunstvolle Formen gegossen dar. Immer unverhohlener bekundet sich sein Interesse am wilden Funkeln der Sprache, am weichen Glimmer ihres in träumerischer poésie pure nachzitternden Klangzaubers selbst.

Hans-Dieter Fronz, Der kleine Bund, 13.10.2005

Felix Philipp Ingold: Wortnahme

Der 1942 in Basel geborene Lyriker, Essayist, Publizist und Übersetzer Felix Philipp Ingold ist ein Mann von geradezu beängstigender Schaffenskraft. Doch ob er Gennadi Ajgni aus dem Russischen oder Edmond Jabès aus dem Französischen übersetzt, ob er exemplarische Texte der Moderne durchleuchtet oder Russland im „Epochenjahr“ 1913 schildert – seine Arbeiten tragen nie die Spur des Flüchtigen, gar Leichtfertigen, sondern überzeugen durch Gründlichkeit und Ernst ebenso wie durch selbstbewussten Esprit. Als Lyriker ist Ingold ein poeta doctus, der mit Formen und Traditionen spielt, Zitate versteckt, rhetorische Figuren vorführt. Dennoch bleibt er nicht bei alexandrinischer Rätselkunst. Im versatilen Gelehrten versteckt sich ein bedrängtes, bisweilen auch mutwilliges lyrisches Ich. Das zeigt sich besonders in Ingolds neuem, klassisch schön gestaltetem Buch, das auf über 500 Seiten und in rückläufiger Anordnung Gedichte aus den Jahren 2005 bis 1980 versammelt: unveröffentlichte, verstreut oder in anderen Fassungen publizierte Texte, die anspruchsvoll sind in dem Sinn, dass sie vom Leser Zeit, Aufmerksamkeit und die Bereitschaft verlangen, sich auf Abenteuer einzulassen. Leicht zugänglich sind sie nicht. Manchmal glaubt man etwas zu verstehen, dann wieder ahnt man nur etwas. Aber es gibt nun einmal keine Lichtung ohne Wald.

Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung, 25.9.2005

Die Lautlosigkeit des Gedichts

− Wortnahme – Felix Philipp Ingolds lyrische Retrospektive. −

Der Band „Wortnahme“ umfasst über fünfhundert Seiten Gedichte Felix Philipp Ingolds. Der Titel evoziert das Bild des Autors als Siedler. Des Fremden, der ein Land als Erster betritt und bebaut. Des Eindringlings auch, denn das Land ist nicht leer: Da ist immer schon die Sprache. Für den Leser bleibt es dasselbe Abenteuer. Gefordert ist sein Entdeckermut. Der Mut, auch einiges zu verlernen. Ausgelesen haben wird man den Band „Wortnahme“ nie. So wenig wie fast jedes einzelne Gedicht. Ihre Eigenwilligkeit verweigert sich jedem einfachen Zugriff.

Bauen mit Trümmern
Zunächst wird man einen wortreichen Könner am Werk sehen. Einen, der mit allen lyrischen Wassern gewaschen ist. Er jagt seine Verse gnadenlos: „DIE WONNE GEHT / Auf und munter / Sterben ist hau ab / Grund zum Überleben schwarz / Wer nicht / Was denken wenn / Der lenkt was / Er nicht weiss / Ein Leben weiter / Und herunter.“ Dann schleicht er sich schon in den ersten Zeilen elegant um sieben Ecken davon: „ist was sich berührt und / aber Entferntes / so ähnlich“. Oder er holt aus, meisselt grosszügige Bilder: „Was da kniet / ist Liebe und auf sie herab / will das Gestirn.“
Dann wieder formuliert er hintersinnige Sentenzen: „Nur dort wo / wir nicht sind begegnen wir / uns.“ Oder er bricht mitten in einem Vers ein: „Aber nicht / das Neue ist die Kunst. In / Sch … In Stein … / In Stein ge- / gehauen lauter Schrrrei!“
Und man wird einen „armen“ Dichter entdecken. Ein zur Sprache verdammtes Tier: „…Ganz / anders – aber nie – / glückt strahlend schwarz / und nah so etwas / wie ein Gott. Ein Tier wie / wir. Wo Sprache als Strafe / gehört …“ Seine Arbeit ist das Bauen mit Trümmern. Eine Zeile wie: „glückt strahlend schwarz“ ist sein Triumph, der ihn Gott gleich macht. Aber sie zeigt gleichzeitig ihre finstere Rückseite: „Kannte je ein Wort das andre und / welches Ding weiss / seinen Namen.“ Das semantische Gefüge ist auseinander gebrochen. „Wortnahme“ tönt auch so: „Wort Name“. (Derart zu hören, lernt man bei Ingold: „Immer wahr der Klang.“) Gerade das wird dann Ingolds Gedichten ein Glück: „Da! Am / Ende wo der Geist aufgibt / (‚du fingst‘) beginnt das arme Wort / zu tagen.“ Zu diesem Ende wendet sich sein „Pfingst“gedicht. Ein verrückter Schluss, an dem alles anfängt. Das Wort, das tagt, ist buchstäblich „Da!“. „Im Anfang war / das Wort ein Ort“, lauten die ersten Verse des Bandes.
„Wortnahme“ enthält viele bereits publizierte, aber noch mehr unpublizierte Gedichte aus den letzten fünfundzwanzig Jahren des lyrischen Schaffens Ingolds. Ein „Lebenswerk“ also, aber nur wenn man den Begriff nicht quantitativ, sondern qualitativ fasst: das Leben als Werk (worüber man ja in den theoretischen Schriften Ingolds lesen kann). Diese Identität stellt sich nicht erst im Nachhinein dar. Sie vollzieht (und konsumiert) sich im Schreiben selber. „Wassern“, „Feuern“, „Erden“, „Himmeln“ heisst ein Gedichtzyklus. Die Elemente sollen nicht als das Beschriebene aufgefasst werden, sondern als das Schreiben. Das Gedicht ist ein Akt. Den Autor gibt es nur in seinem Augenblick.

Befreiender Regelzwang
Ingold hat seine Gedichte gegenläufig zur Chronologie angeordnet. „Wortnahme“ beginnt mit den „jüngsten“ und endet mit den „älteren“, also „früheren“ (wie sie im Buchuntertitel heissen, der das Wort „alt“ vermeidet) und daher eigentlich jüngeren Gedichten. Er wolle dem Leser ermöglichen, Bauprinzipien und Entwicklungen seines lyrischen Werks zu entdecken, merkt er an. Aber da hängt noch mehr dran als das. Die retrospektive Ordnung ist auch Ausdruck der lyrischen Grundstimmung Ingolds, seines heiteren Pessimismus: „Fang mit dem Ende an“, heisst es in einem Gedicht mit dem bezeichnenden Titel „Überlebensentwurf“.
Viele Gedichte sind in dicht gedrängter Folge entstanden. Andere korrespondieren über Jahre hinweg miteinander. Fast alle aber sind im Zwiegespräch mit sich selber. Ihren Autor brauchen sie, einmal zum Leben erwacht, kaum noch. Das ist die Selbstironie, die Ingolds Gedichte leichtfüssig macht – die Selbstironie einer Hebamme. Ihre Kunst folgt Regeln. In kurzen Kommentaren im Anhang erläutert Ingold einige von ihnen. Seine Gedichte erklären können und wollen sie nicht. Denn es geht in ihnen um den „Punkt wo Zwang befreit. Wo’s / glückt. Ja …“ Ingolds Gedichte sind nicht Ausdruck des Regelzwangs, sondern der Befreiung. „Wo’s glückt“, lässt er das Gedicht machen, was es will. Zum Beispiel die Lautlosigkeit im Gedicht „Schnee“: „SCHNEE / ist das was widerlegt / wo nie / kein Ereignis stört“. Es ist die „laute“ Figur der doppelten Verneinung, in der die Lautlosigkeit geschieht. Spiegelverkehrt, nämlich Schwarz auf Weiss, beginnt es tatsächlich zu schneien.

Samuel Moser, Neue Zürcher Zeitung, 18.2.2006

Lyrik gegen die Denkfaulheit

− Wortnahme – Gedichte aus einem Vierteljahrhundert von Felix Philipp Ingold „Jüngste und frühere Gedichte“ führt auf über 500 Seiten durch das Opus von Felix Philipp Ingold. Es ist Poesie, die Widerstände schafft gegen das voreilige Verstehen. −

Wortnahme, der Titel von Felix Philipp Ingolds neustem Gedichtband, seinem umfangreichsten bislang, erinnert an den Begriff „Landnahme“. Doch anstatt Länder zu erobern, begnügt sich hier einer damit, friedfertig Wörter in eine neue, unvorhersehbare Anordnung zu bringen, Gedichte zu schreiben, schon seit Langem.

Abweichende Sinne
Der Untertitel „Jüngste und frühere Gedichte“ ist erklärungsbedürftig; er spricht die gegenläufige chronologische Abfolge der Gedichte an, denn „Wortnahme“ versammelt Texte aus einem Vierteljahrhundert, wobei die neusten, die „jüngsten“, zuerst und dann die älteren, die „früheren“, aufeinander folgen. Das erlaubt einerseits das Beobachten der Genese von Ingolds Gedichten in mehreren Fassungen zurück bis zu ihrem ersten Niederschlag, anderseits erlaubt dies auch das Entdecken einmaliger Texte.
Beider Ursprung aber mag noch weiter zurückliegen. Wohl in einem ersten Impuls – einer aufgeschnappten oder aufgelesenen Redewendung –, die im Poeta doctus den lyrischen Stachel sinnlich freisetzte und über mehrere Umschreibungen hinweg in ein Gedicht mündete. Die Lesart von Ingolds Gedichten darf differieren; sie wird immer dem einzelnen Leser, der einzelnen Leserin entsprechen und noch in ihnen, je nach Stimmung, Umfeld oder Lebenszeit, neue Sinnabweichungen provozieren.
Ingolds Gedichte formulieren sich zwar und beziehen Position, doch entziehen sie sich einer vereindeutigenden Lesart. Sie sperren sich gegen jede Engführung ihres Sinns. Gerade deshalb konnte der Autor in einem Interview mit Georg Mair über den Dichter sagen: „Er hat die Funktion anders zu sprechen, das heisst, die Sprache nicht nur auf Mitteilung hin zu strapazieren, Widerstände zu schaffen gegenüber zu voreiligem Verstehen, das von den Medien gefördert wird. Das Gedicht muss gegen Denkfaulheit und allgemeine Übereinkünfte anschreiben, dichterisches Reden ist Gegengift; derjenige, der dichterisch redet, ist ein Kritiker an der Informationsgesellschaft.“

Ein Monument
Ingold ist ein zünftiger Kritiker oberflächlicher (Des-)Information in seiner Poesie, wenn er, um hier nur ein einziges Beispiel zu geben, das „Diwan (Irakisch)“ überschriebene Gedicht mit den Strophen anheben lässt:

Wacht überm Aas
des massenhaften Täters mehr
als ein Sieg. Sät
Zähne – seht! – das gestrige
Opfer. Rasch
wachsen dem Jawort
Flügel wenn Knie und
Faust sich treffen zum frechen
Triumph.

Zu diesen drei Eingangsstrophen liesse sich in freier Paraphrase sagen: Es geht in Irak um mehr als den Sieg; Iason verlor seine Söhne durch Medeas fürchterliche Hand, der Anführer der Argonauten, welcher bei der Erlangung des Goldenen Vlieses in Kolchis am Schwarzen Meer Drachenzähne zu säen wusste, aus denen allerdings Giganten keimten; sich vor der Macht in die Knie zu werfen ist immer eine Anmassung … Solche – und anderweitige – Deutungen könnten an diesem Gedicht „Diwan (Irakisch)“ ansetzen.
Dem Verleger Urs Engeler ist es mit Ingolds „Wortnahme“ gelungen, im Ablauf der zahlreichen schmalen Gedichtbände dieses Autors ein Monument von über 500 Seiten zu setzen; Editor Engeler hat mit diesem Band ein Opus magnum nicht nur für Ingolds Schaffen, sondern für die gesamte deutschsprachige Gegenwartsliteratur platziert. Wer immer die Lage der deutschsprachigen Gegenwartspoesie auskundschaften will, wird an Felix Philipp Ingolds „Wortnahme“ nicht mehr vorbeikommen.

Florian Vetsch, Tagblatt, 31.3. 2006

Rilke muß noch besser werden

− Ein scherzender Ersetzer: Felix Philipp Ingolds Gedichte. −

Wenn die Dichter bescheiden sein wollen, nennen sie sich Übersetzer. „Wir bescheidenen Übersetzer“, seufzte einst Günter Eich in einem Gedicht und fragte: „Was sollen wir denen sagen, / die einverstanden sind / und die Urtexte lesen?“ Auch der Schweizer Felix Philipp Ingold ist der Auffassung, Autoren seien letztlich doch nur Übersetzer, nämlich „durchaus keine Schöpfer, nur Interpreten von Texten, von Textwelten.“
Ingold weiß, wovon er redet. Seine Bescheidung hat aber andere Gründe. Er ist als Übersetzer einer der bedeutenden Vermittler der literarischen Moderne. Er hat vor allem aus dem Russischen und dem Französischen übersetzt: Genadij Ajgi, Joseph Brodsky, Ossip Mandelstam, Marina Zwetajewa oder Maurice Blanchot, Edmond Jabès, Michel Leiris und Francis Ponge. Eine Liste bester Namen. Wer diese Textwelten übersetzt hat, darf in bescheidenem Stolz auch die eigenen Arbeiten als Übersetzungen deklarieren. Zumal wenn auch seine Übersetzungstheorie eine Theorie von Produktion ist.
Vor Jahren überschrieb Ingold einen einschlägigen Essay keck „Üb er’s: Übersetzen“ und lieferte darin so erfrischende Respektlosigkeiten wie: „Fehlerhafte Übersetzungen sind nicht die schlechtesten.“ Das kann nur ein Profi sagen, der über die Banalität des Fehlerhaften hinaus in Fehlleistungen den poetischen Mehrwert zu erkennen vermag. Nicht übersetzerische Treue interessiert ihn. Er steht dazu, daß die Übersetzung den fremden Text „unausweichlich und unabsehbar verändert.“ Der Übersetzer dichtet, der Dichter übersetzt. So läßt sich das Abenteuer des Übersetzens wie des Schreibens in Variation der Titelmaxime seines Essays auf den Ratschlag bringen: „Üb ersetzen!“
Ingold, der Dichter, tut es gern und im direkten Wortsinn. Nicht bloß beim Übersetzen aus dem Fremdsprachlichen, sondern auch, wenn er aus dem Deutschen ins Deutsche übersetzt. Nämlich aus Rilkes Idiom ins Ingoldsche. Er behält den Klang, tauscht aber die Worte und Begriffe aus. Er schmuggelt als Konterbande einen anderen, einen neuen Sinn ein. Ein des Deutschen Unkundiger würde den ersetzenden Schwindel gar nicht bemerken. Ingold nennt diese Übertragungen „vagantische Nachschriften“.
Es sind foppende und zugleich frappierende Transponierungen des Lautbildes, das jeder Rilke-Leser sogleich wiedererkennt. Sie beginnen etwa: „Schau: ein Himmel! Heißt das Weichbild Zweiter?“ oder „Wir traten nicht sein unerhörtes Stehn / in Gang.“ Der Text aus den Orpheus-Sonetten oder der „Archaische Torso Apollos“ erscheinen nicht als Parodien – obwohl der parodistische Effekt besonders beim Torso stark ist. Es sind Variationen im musikalischen Sinne. Da diese homophonen Kontrafakturen von Rilke herkommen, sind es auch Rilke-Interpretationen, – Korrekturen. Komplexer und komplizierter wird Ingolds Poetik, wo sie sich von Vorlagen löst und über das Ersetzen hinaus den freien und zugleich gesteuerten Entwurf sucht. Michel Leiris ist dafür der Gewährsmann mit seiner Maxime: „Zufälle nutzen mit Bedacht.“ Ingold selbst gibt dafür ein Beispiel mit seinem Gedicht „Char“, einem Epitaph für den im Frühjahr 1988 gestorbenen Dichter René Char. Hier spielt er mit den Elementen zweier Sprachen, einem Hin und Her zwischen dem Deutschen und dem Französischen.
Solcher Transfer erinnert den Autor an ein Hinübersetzen über den Totenfluß, und so erscheint der Dichter Char sogleich als Charon. Überhaupt ist der Autor der beste Kommentator seiner Texte. Er erläutert Beziehungen, die der Leser selbst vielleicht nicht hergestellt hätte. So spielt die „Sorge“ im Text nicht bloß homophon auf Chars langjährigen Wohnort L’Isle-sur-Sorgue an, sondern verweist auch auf den Begriff der Heideggerschen Sorge.
Auch Homophonien haben ihre Tücken. Der glückliche Fund ist nicht immer vom Beziehungszwang oder -wahn zu unterscheiden. Auch nicht von Platitüde oder Kalauer. Daß Paris an der Seine liegt, hat schon Friederike Kempner gewußt und – vermeintlich homophon – darauf „Du weißt ja, was ich meine“ gereimt. Ingold hat – bewußt und artifiziell – dieses Spiel mit „Seine“ noch einmal gespielt: „SEINE / ist weiblich und / aber ohne Geschlecht. Echt / rauscht sie / in Strophen und / künstlichen Muscheln.“ Hier rauscht sie artifiziell, als reines Sprachphänomen.
Als „Wortnahme“. So heißt das Gedicht eine Seite zuvor, und es endet mit einer herausgehobenen Zeile: „immer wahr der Klang.“ Man möchte das nicht gerade als Ingolds Glaubensbekenntnis nehmen, aber einen existentiellen Affekt hat es, wenn ein Poet das Lautliche, die Melopoeia, so hoch einschätzt. Aber Ingold wurde kein Lautpoet, er bleibt beim festen Buchstaben seiner „Wortnahme“. Das Gedicht gibt seinen lyrischen Arbeiten aus fünfundzwanzig Jahren (die hier retrospektiv, gegenläufig zur Chronologie erscheinen) auch den glücklichen Gesamttitel. Er drückt sehr schön die Intention einer poetischen Expansion aus, einer Art Landnahme. Aber „Landnahme“ wäre Metapher, „Wortnahme“ dagegen zeigt die Beschränkung auf die Materialität der Sprache.
Wer durch Ingolds Sprachspiel sensibilisiert ist, mag auch in der „Landnahme“ die Homophonien erkennen. Positiv: den Namen, der zum Wort hinzutritt. Negativ: die Wortnahme als Verlust, die Fortnahme. Wer so virtuos das Ersetzen übt, schafft nicht bloß etwas Neues, er schafft auch Altes ab. Daß er mit Ersetzen Scherz treibt, macht nicht den geringsten Reiz seiner Sachen aus. Es zeigt den Ernst, unter dem alles Spiel mit dem Wort, alles Dichten steht.

Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.7.2006

Felix Philipp Ingold Wortnahme (2005)

DIALOG

„Wann werden
Wörter Worte?“ – „Wenn sie
sagen.“

Ob Felix Philipp Ingold sich poetisch oder poetologisch oder poetischpoetologisch äußert: In den von mir nach 2000 zur Kenntnis genommenen Sammelbänden zeichnet er sich stets besonders aus mit wortstarken Gedichten bzw. gedankenstarken Anmerkungen zur Lyrik. Darauf habe ich im entsprechenden Zusammenhang bereits hingewiesen. Wortnahme. Jüngste und frühere Gedichte (Urs Engeler Editor, Basel, Weil am Rhein und Wien 2005) zeigt die poetische Brillanz Felix Philipp Ingolds, der intensivst den Klängen nachlauscht, hartnäckig die Wörter auf versteckte Bedeutungsnischen hin abklopft und phantasievoll neue Strukturen erschließt. Das Gedichtbuch Wortnahme. Jüngste und frühere Gedichte (540 Seiten, Leineneinband mit Schutzumschlag, Lesebändchen) von Felix Philipp Ingold montiere ich nach dieser langen und leidenschaftlichen Begegnung als Leser in das Kleeblatt der drei Bücher, die herausragen aus den mehr als tausend in Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000 vorgestellten und bibliographierten Einzeltiteln.

SCHWERKRAFT

Nur kurz der Fall sein. Bis der Laut
die Luft einholt als wär sie Lied .
Als hielte Wut das Maul. – Ist Atem
was nie täuscht. Was dort der Strauch
zum Lodern braucht. Wie auch
der Trauermantel der die Urschrift
löscht und stirbt fürs Erste.

Theo Breuer, aus: Theo Breuer: Aus dem Hinterland, Edition YE, 2005

 

 

Jan Kuhlbrodt: Versuch über Ingold
poetenladen.de, 28.10.2012

Jan Kuhlbrodt: Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der Chronologie

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Ulrich M. Schmidt: Das Leben als Werk
Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2012

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Magnus Wieland: Der Autor, der die Autorschaft hinterfragt
Berner Zeitung, 25.7.2022

Fakten und Vermutungen zum Autor + PreisKLG +
Kalliope + Viceversa + Forschungsplattform + slavistik-portal
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00