Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Der Bildungstrieb der Dichtung (Teil 2)

Der Bildungstrieb der Dichtung

… Teil 1 siehe hier

Der Sprachforscher Ferdinand de Saussure war es, der nach jahrelangem Studium antiker Verskunst den Autor als Schöpfer und Gestalter zurücktreten liess hinter «die Sprache», deren inhärent vorgegebene Lautgesetze die Textentstehung so weitgehend beherrschen, dass der Dichter darauf beschränkt bleibt, die sprachlichen Vorgaben zu arrangieren, statt sie nach eigenem Gutdünken und Willen selbst ins Werk zu setzen. Dichten, so verstanden, heisst – der Sprache «Rechnung tragen», ihr «gerecht werden», ihre «Eigengesetzlichkeit» anzuerkennen.
Demnach stünde hinter dem Text nicht mehr die Autorität eines schöpferischen Subjekts, sondern die unpersönliche Autorität der Sprache als solchen, welche (mit Runge zu reden:) den materiellen «Bildungstrieb» des Dichtwerks in Gang setzt und lenkt. Dem Autor – einst als Demiurg, als Magier, als Genie respektiert – blieben demnach bloss noch die Wahl und die Variation des Sprachmaterials, und nicht mehr die eigenmächtige Schaffung des dichterischen Texts. – Dass gleichzeitig mit Ferdinand de Saussure die europäische «Literaturrevolution» (Futurismus, Expressionismus usf.) die tradierte selbstherrliche Autorschaft in Frage gestellt und statt dessen eine autonome Wortkunst gefordert hat, bestätigt die «epochale» Tragweite von Friedlieb Ferdinand Runges scheinbar unerheblicher «Entdeckung».

 

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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