Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Der Poet (weiblich) (Teil 1)

Der Poet (weiblich)

 

In der russischen Wikipedia ist Marina Zwetajewa aktuell als «Dichterin» (poetessa) rubriziert. Das ist keine Fehlinformation, doch es entspricht nicht Zwetajewas Selbsteinschätzung und konterkariert ihren expliziten Wunsch, in der männlichen Nennform angesprochen zu werden: als «Dichter» (poet). «Frauenlyrik» und noch so begabte «Dichterinnen» waren ihr ein Graus. Man hat ihre beharrliche Präferenz für «den Dichter» mit ihrer lesbischen Veranlagung zu erklären versucht, mit ihrem herrischen Auftreten, mit ihrem abrupten und provokanten Personalstil. Für sie selbst war Männlichkeit nur einfach Menschlichkeit, geschlechtlich indifferent, so wie das Genie, wie der Held – Jeanne d’Arc und Theseus nicht anders als Goethe oder Sigrid Undset.

In einer persönlichen Briefnotiz vom 4. Juni 1934 an den Lyriker und Kritiker Jurij Iwask hat Marina Zwetajewa noch eine andere, eine familiär bestimmte Prämisse für ihr Dichtertum offengelegt: «Alles in mir war gleichermassen eingegeben, war mir mitgegeben von allem Anfang an: […] Seit der Absicht meiner Mutter, einen Sohn mit Namen Aleksandr haben zu wollen – so ist eben ein Dichter aus mir geworden, und keine Dichterin …» – Mithin erklärt und rechtfertigt sie ihr männlich markiertes Dichtertum einerseits durch das Schicksal und andererseits, da es um Fortzeugung und biologisches Erbteil geht, durch die Natur.

… Fortsetzung hier

 

© Felix Philipp Ingold
aus unveröffentlichten Manuskripten

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