Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Haiku oder Die Lehre von der Leere der Dichtung (Teil 3)

Haiku oder Die Lehre von der Leere der Dichtung

Teil 2 siehe hier

Das deutschsprachige Haiku, dessen nachhaltige Rezeption erst nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte und dann auch rasch zu einem Trend wurde, lässt formal oft kaum noch etwas ahnen vom japanischen Modell. Die überwiegende Mehrheit deutscher Haiku-Lyrik – egal, ob Nachahmung oder Nachdichtung – erfüllt die vielfältigen Anforderungen der japanischen Poetik nicht. Wie weit davon abgewichen werden kann, zeigt beispielhaft eine Adaptation von Bertolt Brecht:

Der Bauer pflügt den Acker.
Wer
Wird die Ernte einbringen?

Auch Rainer Maria Rilke, der die «in ihrer Kleinheit unbeschreiblich reife und reine Gestaltung» des Haiku hoch zu schätzen wusste und schon um 1920 einige diesbezügliche Schreibversuche unternommen hat, bleibt vom Schema weit entfernt, wenn er einen Dreizeiler wie diesen ausarbeitet:

Kleine Motten taumeln schaudernd quer aus dem Buchs;
sie sterben heute abend und werden nie wissen,
daß es nicht Frühling war.

Nicht nur der Form nach strapaziert Rilke das japanische Muster (mit 12 statt 5 Silben in der ersten Zeile und mit unnötiger Interpunktion), sondern auch durch die menschliche Emotionalisierung der Motten, deren angebliches «Schaudern» keine reale Wahrnehmung ist, sondern eine dichterische Behauptung oder Erfindung. Dass die «kleinen Motten» «schaudernd quer» durch die Luft taumeln, ist eine für das Haiku viel zu üppige, letztlich pleonastische Formulierung, da ja doch alle Motten «klein» sind und deren Taumeln nicht weiter präzisiert werden muss. Ein Zuviel an dekorativem Wortaufwand ist der Haiku-Dichtung in jedem Fall unangemessen.

… Fortsetzung hier

 

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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