Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Kleines Plädoyer für das Gedicht (Teil 2)

Kleines Plädoyer für das Gedicht

 

… Teil 1 siehe hier

Es ist mit der Poesie eine seltsame Sache – kaum je wurde soviel davon produziert wie heute, und kaum je gab es so viele Preise, Stipendien, Diplome und andere Auszeichnungen für lyrisches Schaffen. Doch die Nachfrage bleibt hinter dem Überangebot weit zurück. Die Mehrheit jener, die Poesie überhaupt noch zur Kenntnis nehmen, ist weitgehend identisch mit der Minderheit derer, die selbst Gedichte schreiben. Auch bei der professionellen Literaturkritik findet Poesie nur noch marginale Beachtung, Rezensionen sind rar geworden, und im Fazit bleiben sie meist auf die Bekundung von unreflektiertem Gefallen oder auf die Klage über Verständnisschwierigkeiten beschränkt, auf Reaktionen mithin, wie sie auch in weiteren Leserkreisen gang und gäbe sind.

Zwei Aspekte werden dabei fast durchweg verkannt – erstens, dass Gedichte nicht primär auf Kommunikation und Verständigung angelegt sind; zweitens, dass jedes einzelne Gedicht als ein Volltext gelten kann, dessen integrale Lektüre – im Unterschied zum Roman – in kurzer Zeit und bei vielen Gelegenheiten problemlos möglich ist, in der Warteschlange oder im Strassencafé ebenso wie auf der Rolltreppe und beim Zwischenhalt auf der Gebirgswanderung. Integral – das heisst in diesem Fall: Wer ein Gedicht liest, wird ohne Unterbrechung ein vollständiges Literaturwerk gelesen haben. Keine andere Textsorte ermöglicht eine solcherart beiläufige und zugleich komplette Lektüre.

Unter diesem pragmatischen Gesichtspunkt erweist sich das Gedicht, das doch gemeinhin für elitär, weltfremd und unzeitgemäss gehalten wird, in der schnelllebigen und stressbetonten Gegenwartswelt unversehens als die optimale, ganz und gar zeitgemässe Literaturform. Dass solche «Aktualität» nicht zuletzt in den zu Unrecht gefürchteten Schwierigkeiten des Verstehens begründet ist, bedarf zumindest eines summarischen Kommentars, denn als aktuell gelten ja, im Gegenteil, Texte (auch dichterische), die durch unmittelbaren Wirklichkeitsbezug und sofort einsehbare Bedeutung wirksam werden, die ihren aufklärerischen oder anklägerischen Impetus jedoch rasch einbüssen, wenn die «Aktualität» erst einmal überwunden und als Vergangenheit abgeschrieben ist.

… Fortsetzung hier

 

© Felix Philipp Ingold
aus unveröffentlichten Manuskripten

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