Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Kleines Plädoyer für das Gedicht (Teil 3)

Kleines Plädoyer für das Gedicht

 

… Teil 2 siehe hier

Überzeitliche, mithin bleibende Aktualität gewinnt die Dichtung einerseits dort, wo sie bei all ihrer Bedeutungs- und Bilderfülle einen Rest von Unverständlichkeit bewahrt, der unentwegt aufgearbeitet, aber nie ganz erschlossen werden kann; anderseits dann, wenn sie formale Qualitäten schafft, die ihre Mitteilungsfunktion überbieten, indem sie sich der direkten sinnlichen Wahrnehmung öffnen und dadurch auch eine sinnliche, auf Klang, Rhythmus und Metaphorik beruhende Erkenntnis ermöglichen, ein Phänomen, das keineswegs auf «dunkle» Poesie beschränkt bleibt, sondern ebenso bei scheinbar einfachen Gedichten auftreten kann − falls diese nur komplex genug instrumentiert sind.

Dass hermetische Dichtung wie auch Zauber-, Kinder- oder Nonsensverse nach ihrer Machart und Wirkungsweise so manches gemeinsam haben, ist durch ihr vorrangiges Interesse an der eigenen Sprachlichkeit bedingt, dadurch, dass Sprache in solcher Darbietung gleichzeitig Medium und explizit oder implizit Gegenstand der jeweiligen Verlautbarung ist. Das noch immer provokant wirkende Diktum, wonach im Gedicht die Form den Inhalt hervorzubringen habe, der Inhalt folglich das Sekundärprodukt der Wortwahl sei, hat allgemeine Geltung für den künstlerischen Spracheinsatz − in allen Epochen und in allen literarischen Kulturen. Wahr ist aber auch, dass die mehrheitlich praktizierte Lyrik seit jeher umgekehrt verfährt, indem sie vorgefassten Inhalten nachträglich eine wie immer geartete poetische Form verpasst.

… Fortsetzung hier

 

© Felix Philipp Ingold
aus unveröffentlichten Manuskripten

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