Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Kleines Plädoyer für das Gedicht (Teil 5)

Kleines Plädoyer für das Gedicht

 

… Teil 4 siehe hier

Dichterische Musterstücke mit solch «unerwarteten Zugaben» gibt es zwischen Sappho und Ernst Jandl zur Genüge. Ein besonders populäres und aufschlussreiches Beispiel dafür ist das Kurzgedicht «Ein gleiches» (Supplement zu «Wandrers Nachtlied») von Johann Wolfgang von Goethe, eins der kürzesten und stärksten Gedichte aus dem Kanon deutschsprachiger Poesie − ein Gelegenheitsgedicht. Dennoch hat Goethe ein Vierteljahrhundert gebraucht, um es in seine definitive Form zu bringen. Die Erstfassung schrieb er 1780 an einem Septemberabend mit Reissblei an die Holzwand der Jagdhütte auf dem Kickelhahn bei Ilmenau; 1815 legte er den Text, nach ebenso diskreter wie intensiver Überarbeitung, im Druck vor:

Ueber allen Gipfeln
Ist Ruh’,
In allen Wipfeln
Spürest du
aaaaaKaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

Gegeben sind acht unterschiedlich lange Verse, gereimt nach dem Schema ababcddc. Auch wenn der Titel «Ein gleiches» auf ein anderes, ein vorgängiges Gedicht verweist, auf «Wandrers Nachtlied» eben, wird damit doch auch angedeutet, dass es hier generell ums Vergleichen geht, um Ähnlichkeiten oder, genauer, um Entsprechungen.

Dichterisches Sprechen ist ein Sprechen in Entsprechungen. Dichterische Rede ist vergleichende Rede insofern, als sie sprachlichen Ausgleich und Gleichklang herstellt. Da sich Sprache nicht anders als linear und monologisch ausleben kann, lassen sich Gleichklang und Ausgleich naturgemäss niemals synchronisieren – sie sind nur im Nacheinander, in der Wiederholung des Gleichen oder des Ähnlichen zu erreichen.

Am offenkundigsten wird dies beim vorliegenden Kurzgedicht durch die Endreime bewerkstelligt: Gipfeln :: Wipfeln; Ruh :: du; Hauch :: auch; Walde :: balde. Diese simplen lautlichen Entsprechungen werden kunstvoll ergänzt durch Binnenreime, Assonanzen oder auch buchstäbliche Wiederholungen: allen / allen; (~ Anagramm:) über / spürest; kaum / Hauch; (Vö)gelein / (schw)eigen; (w)arte / (b)alde; nur / ruh; (~ Silbenpalindrom:) ist Ruh / ruhest.

Die handschriftlichen Korrekturen beziehungsweise Varianten zu «Ein gleiches» lassen erkennen, wie genau Goethe auf die lautliche Instrumentierung des Gedichts geachtet hat. Klar zu erkennen ist auch, dass und wie sich die formale Ausarbeitung auf der Mitteilungs- und Darstellungsebene auswirkt. Klangliche und rhythmische Qualitäten haben Vorrang, sie bestimmen die Wortwahl, die Satzbildung und damit die Aussage des Gedichts insgesamt.

… Fortsetzung hier

 

© Felix Philipp Ingold
aus unveröffentlichten Manuskripten

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