Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Lesen, was dasteht (Teil 3)

Lesen, was dasteht

Teil 2 siehe hier

Man muss Gebsers esoterische Intonation – seine Auslassungen über die «abendländische Seele», «des Herzens innerstes Vermögen» oder das neue «geistige Licht» einer «aperspektivischen Welt» – ausseracht lassen, um seine präzisen Beobachtungen am Gedicht als «reinem» Sprachgebilde ernstnehmen zu können. Mir selbst ist das nur mit Mühe gelungen. Nach der enttäuschenden Erstlektüre des «Grammatischen Spiegels» habe ich das Buch für lange Jahre in die zweite Reihe meines Regals zurückgestellt, bis ich es beim Umräumen der Bibliothek erneut in die Hand bekam und mich beim Durchblättern plötzlich dafür interessieren konnte.

Denn erst jetzt erkannte ich, dem heilsgeschichtlichen Raunen des Autors zum Trotz, eine systematisch und analytisch ausgearbeitete Poetik, die dem modernen Gedicht – von Georg Trakl bis Paul Eluard und Vicente Aleixandre – tatsächlich angemessen war und für dessen Verständnis hilfreich sein konnte. Gebser liefert mit dem «Grammatischen Spiegel» eine detaillierte Bestandsaufnahme neuer dichterischer Macharten, die für die europäische Moderne insgesamt charakteristisch sind.

Macharten also, und nicht wie üblich – Inhalte, Themen, Wirklichkeitsbezüge. Diese bezeichnet Gebser pauschal als «Fabel», mit dem Hinweis darauf, dass das moderne Gedicht Inhaltliches zurückstelle und statt dessen formale, sprachliche Qualitäten privilegiere. Es könne nun nicht mehr darum gehen, «seinen Inhalt zu interpretieren», statt dessen solle man «seine grammatische Konstruktion für sich selbst sprechen lassen». Die Bedeutung des Gedichts trete hinter seine «konkrete» Sprachlichkeit (Grammatik, Lexik, Prosodie) zurück. So erkennt Gebser etwa bei Gertrude Stein den bewussten «Verzicht auf intellektuelle Logik, welche durch eine gewisse rhythmische [Logik] kompensiert wird», was einer «Absage an das Abstrakte zugunsten des Konkreten» gleichkomme.

Oder einfacher gesagt: Statt wie üblich bei Gedichten abzuheben auf deren Bedeutungsebene, zu interpretieren, was an Bedeutung hinter oder zwischen den Zeilen mitgegeben ist, richte man Blick und Interesse erst einmal auf das, was Schwarz auf Weiss dasteht.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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