Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Lesen, was dasteht (Teil 4)

Lesen, was dasteht

Teil 3 siehe hier

In Form eines knappgefassten Katalogs führe ich hier an, welche «neuartigen Bewertungen und neuartigen Verwendungen grammatischer Termini» Jean Gebser «bei allgemein anerkannten Schriftstellern und Dichtern des europäischen Kulturkreises» ausgemacht hat, dies im erklärten Bestreben, zur «neuen ruckartigen Evolution» des Welt- und Selbstverständnisses (Umwertung «fast aller bisher gültigen Wertungen und Überzeugungen») im «grammatischen Spiegel» der zeitgenössischen Poesie eine formale Entsprechung zu finden. Im Vordergrund steht dabei der massive kulturelle «Bruch» im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, der gleichermassen den Abbruch alter Traditionen und den Aufbruch in neue Dimensionen des Denkens und Gestaltens markiert.

Im Gedicht ist von diesem Bruch die Beziehung zwischen Sprache und Bedeutung besonders betroffen. Das Eigenschaftswort wird aus seiner bedeutungsmässigen Bindung an das Substantiv befreit, so dass nun beispielsweise der blasse oder silbrige oder gelbe Mond zur «roten Zote» (Paul Zech) mutieren kann, die schäumende Quelle zu einem «blauen Lachen» oder die grünen Wasserpflanzen zur «grünen Stille des Teiches» (Georg Trakl). Die Verwendung von Farbadjektiven führt diesen Bruch naturgemäss am deutlichsten vor Augen, findet aber vielerlei Entsprechungen auch in andern Zusammenhängen: «… stand an gestern begonnenem Fenster» (Rilke), «die grüne Nacht der Wiesen» (Valéry), ein «schweissiger Schrecken» (Lorca), «erschrockenes Licht» (Guillén); ein Grün kann «beschäftigt» sein, ein Hospiz «blaukreidig», ein Park – «verwöhnt» usf.

Die Häufung substantivierter Tätigkeitswörter in der neuen Dichtung («schweres Sonnenbetasten», «das Zugleich-Sein», «ein weisses Fortsein», «vom Verhallenden umfangen» usf.), mithin die Verdinglichung und Verdichtung von Aktivitäten deutet Gebser als willkürliche Aufhebung der Wechselwirkung zwischen Aktion und Reaktion, die nun entweder zusammenfallen oder gegenseitig sich neutralisieren: «Es findet ein In-Fluss-Bringen der Dinge und Begriffe statt, die dadurch die Eigenschaft verlieren, ausschliesslich perspektivisch betrachtet zu werden.» Das «In-Fluss-Bringen», von dem der Autor hier spricht, ist dafür, als Wortfügung, eins von beliebig vielen Beispielen.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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