Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Lesung und Lektüre (Teil 3)

Lesung und Lektüre

Teil 2 siehe hier

Wladimir Majakowskijs «Mensch!» ist ein zugleich grosssprecherisches und kleinlautes Dichtwerk, das man lediglich der Form nach als «revolutionär» bezeichnen kann. Geradezu exhibitionistisch, bis hin zu expliziten Suizidgedanken, gibt sich das lyrische Ich in seiner Zerknirschung und seinem «dämonischen Wahn» zu erkennen – seine «Revolution» ist die Liebe, und diese bleibt unerreichbar, unerfüllt, ja, sie lässt sich nicht einmal denken. Wenige Wochen nach der bolschewistischen Machtergreifung nimmt sich hier Majakowskij als Sympathisant des neuen Regimes die Freiheit, in Hunderten von Versen sich selbst in den Vordergrund zu rücken, ganz unheroisch, in der tragischen Pose eines weltfernen Romantikers und mit dem althergebrachten Thema der enttäuschten Liebessehnsucht.
Es gibt bei Majakowskij zahlreiche weitere, depressiv verstimmte Liebesgedichte, aber gleichzeitig ebenso zahlreiche polemisch oder propagandistisch zugespitzte Agitationsverse, die das verletzte Ich völlig vergessen lassen hinter dem heraufkommenden Wir des Proletariats. Warum er für die erwähnte Lesung einen Text ausgewählt hat, mit dem er sich bei all seiner destruktiven Wortgewalt und entgegen seinem ruppigen Image, als feinfühliger und aufrichtiger Beobachter seiner selbst in Szene setzen konnte, bleibt unklar.
Klar ist aber, dass sein damaliges, höchst anspruchsvolles Publikum seinen Auftritt mit enthusiastischem Applaus quittiert hat. Von Ehrenburg und Pasternak liegen dazu übereinstimmende Zeitzeugnisse vor, letzterer bezeichnete das «Mensch!»-Poem pauschal als «ein von ungewöhnlicher Tiefe und erhabenem Schwung erfülltes Gedicht».

… Fortsetzung hier

 

© Felix Philipp Ingold
aus unveröffentlichten Manuskripten

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