Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Lesung und Lektüre (Teil 4)

Lesung und Lektüre

Teil 3 siehe hier

Veranstaltung mit vergleichbarer Wirkung nicht mehr durchführen – aus ganz unterschiedlichen Gründen. Allein schon die Prämisse, dass ein Dutzend führender, dabei sehr gegensätzlicher Autoren in einer privaten Wohnung zusammenkommen, um ohne Honorar, ohne zahlendes Publikum und ohne mediale Begleitung eigene Texte vorzutragen, ist nicht mehr vorstellbar; ebenso wenig, dass bei einem derartigen Anlass schwierigste Gedichte vorgetragen und allseits mit Begeisterung aufgenommen werden, und noch weniger kann man sich vorstellen, dass darüber Jahrzehnte später in Buchform berichtet würde, wie Pasternak in seinem «Geleitbrief» (1931) und Ehrenburg in «Menschen, Jahre, Leben» (1961-1966) es in ungetrübter Erinnerung daran getan haben.
Die Reminiszenz von 1918 steht im Übrigen nicht für einen Einzelfall – Lesungen im Privatkreis (in Salons, Ateliers oder bei regelmässigen Zusammenkünften) waren damals in Russland gang und gäbe, auch wenn sie nach der Revolution schon bald abgelöst wurden durch Massenveranstaltungen in Konzertsälen und Sportstadien. Als neu aufkommende Medien boten sich zusätzlich Radio und Film für die Verbreitung dichterischer Texte an. Wladimir Majakowskij gehörte zu den ersten sowjetischen Literaten, die eben diese Podien gezielt für sich nutzten, abgesehen davon, dass er auch als Erster die grossangelegte, professionell organisierte Lesereise in den Literaturbetrieb einführte.

… Fortsetzung hier

 

© Felix Philipp Ingold
aus unveröffentlichten Manuskripten

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