Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Letzter Jaccottet (Teil 3)

Letzter Jaccottet

Teil 2 siehe hier

Philippe Jaccottet begreift die Hinwendung zum Geringsten zugleich als Öffnung zum Grössten und Höchsten hin. Dass nun auch die Religion (das Religiöse, Gott) zu seinem Recht kommt, ist in vielen Fällen charakteristisch für späteste Lyrik. Auch er, einst antiklerikal und aufrührerisch engagiert, scheint im fortgeschrittenen Alter das Heilige in dichterischer Weise ernstgenommen zu haben – als das Unaussprechliche, in Worten Unfassbare, deshalb besonders Kostbare, entrückt und ganz präsent zugleich. Der Kunstverzicht der Poesie gewinnt als solcher künstlerische Qualität, das Zögern, Stottern, Verstummen dichterischer Rede wird ex negativo zu einer Art Für- oder Vorsprache dessen, was in Worten nicht einzuholen ist – das Reale einerseits, das Göttliche (wie immer es in Erscheinung treten mag) andrerseits.

Beides, Göttliches wie Reales, meint Jaccottet in den «beiden bevorzugten Vorboten der Dichtung» zu erkennen, in «den Vögeln und im lebendigen Wasser». Unklar, was damit angesprochen werden soll – Gezwitscher und Vogelflug, Strömen und Rauschen? Hier gewinnt das Esoterische die Oberhand, während die Poesie einzig noch im Verstummen sich behauptet. Das späte Schreiben wird überboten und kompensiert durch ein suchendes Schreiten, durch einen Garten, durch eine Landschaft, wobei die Poesie hinter das Poetische zurücktritt und zugleich eine «offene Konstruktion» (!?) sich zu erkennen gibt, «welche das Unendliche (l’infini) umgreift»: «Und zwar noch jedes Mal mit dem wahrhaftig zentralen Gefühl des Heiligen.»

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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