Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Lyrischer Minimalismus (Teil 4)

Lyrischer Minimalismus

Teil 3 siehe hier

Bleibt die Frage, was denn das Haiku für hiesige Autoren und Übersetzer so attraktiv macht. Ein Grund dafür ist sicherlich seine Fremdheit, die Tatsache, dass die europäische Dichtung weder eine vergleichbare Vers- und Strophenform kennt, noch eine lyrische Aussageweise, die gänzlich auf gewisse Themenbereiche (wie Stadtleben, zwischenmenschliche Konflikte, metaphysische Probleme usf.) verzichtet und sich im Wesentlichen mit der Feststellung dessen begnügt, was hier und jetzt vorhanden und sinnlich wahrzunehmen ist.

«Ein Prinzip der Haiku-Ästhetik ist, dass das Haiku <nichts Spezielles> enthält», erklärt der amerikanische Haiku-Poet John Stevenson: «Die Prämisse könnte sein: Was immer profund ist im Leben, ist auch präsent in den meisten gewöhnlichen Dingen.» – Statt zu besagen und zu bedeuten, beschränkt sich das Haiku darauf, Wahrnehmbares, Wahrzunehmendes, Wahrgenommenes zu benennen und es solcherart sprachlich dingfest zu machen. Emotionale Momente – Trauer, Freude, Trost, Wut, Sehnsucht – werden nicht eigens artikuliert oder gar kommentiert, und auch historische, mythologische und intertextuelle Bezüge bleiben ausgespart.

Mag ja sein, dass gerade die inhaltliche Banalität, das Nichtssagende des Haikus seine Anziehungskraft ausmacht, die strenge Beschränkung eben auf das, was unmittelbar fassbar und deshalb nicht der Rede wert ist. Poetische Brillanz, philosophischer Tiefsinn, psychische Befindlichkeiten sind hier nicht gefragt. Der Moment will keine Ewigkeit, er ist, was der Fall ist, und darin erschöpft und vollendet er sich, wie flüchtig auch immer er sein mag – ihn dichterisch auszugestalten, besteht kein Anlass; es genügt, dass er angesprochen wird und im Text (als Text) erhalten bleibt. «Zuviel Schönheit, zuviel Worteffekt kann im Haiku von übel sein», notierte dazu einst der Übersetzer Roger Munier. Der weitgehende Verzicht auf sprachliche Übertragung und Überhöhung durch Vergleiche oder Metaphern, wie sie in westlicher Dichtung gang und gäbe sind, ist für das originale Haiku charakteristisch – sie erübrigen sich; denn sein Einzugsgebiet ist die aussersprachliche Welt, und nicht die Sprachwelt der Texte.

Ihnen fehlen die Worte
dem Gastgeber dem Gast
und der weissen Chrysantheme

                                            Ryôta

Aber:

Jede neue Blüte am Pflaumenbaum
erhöht
die Wärme

                                          Ransetsu

 

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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