Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Prekäres Vorbild (Teil 1)

Prekäres Vorbild

 

Dass ich mich einst – noch als Gymnasiast – für Stefan George begeistern konnte, ist mir heute ziemlich unerklärlich. Das lyrische Feld war damals vom späten Lehmann und vom späten Benn dominiert, war mitbesetzt von Karl Krolow, Marie-Luise Kaschnitz, Hilde Domin und bereits auch von Paul Celan. Das Interesse an George war demgegenüber gering, die Erstausgaben seiner grossen Dichtwerke hatte ich für wenig Geld im Antiquariat erworben, hatte sie auch tatsächlich gelesen.
Kaum noch vorstellbar, dass und wodurch George mich ansprach, weniger noch, wie er sich vor Zeiten als wortführender Autor und als Zuchtmeister seines exquisiten Schülerkreises behaupten konnte. Weit mehr als Weinheber, Rilke, Vollmoeller oder Hugo von Hofmannsthal personifizierte er über Jahrzehnte hin die reichsdeutsche literarische Moderne, ohne jemals populär zu sein, ohne «mitreden» zu wollen, ohne Rücksicht auf Trends und Erwartungen – nachhaltig belobigt von Gleichgesinnten, polemisch abgefertigt von unversöhnlichen Gegnern; verachtet wie auch verlacht als elitärer, selbstherrlicher, asozialer und apolitischer Kunstpriester, der eine intellektuelle Sekte von Mitläufern um sich scharte in der Absicht, ein «inneres Reich» zu schaffen, das vom Rest der Welt abgeschottet bleiben sollte.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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