Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Selbsttätige Dichtung (Teil 1)

Selbsttätige Dichtung

 

Die Poesie der europäischen Moderne – Futurismus, Expressionismus, Dadaismus usf. – ist längst als «Literaturrevolution» in den Kanon eingegangen. Traditionsbruch einerseits, Innovationsstreben andrerseits gelten dementsprechend als hauptsächliche Charakteristika jener nun schon weit zurückliegenden «Revolution», von der die Dichtung des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt war.
Inzwischen ist die Wirkkraft der damaligen Avantgarde weitgehend geschwunden; ihre Protagonisten, von Apollinaire über Tzara und Stramm bis hin zu Majakowskij, haben an Autorität deutlich verloren; Fortschrittsdenken und Formerneuerung gelten für die zeitgenössische Poetik nicht mehr als vorrangige Kriterien.
Doch man kann – und sollte – die «Literaturrevolution» der 1910er, 1920er Jahre keineswegs nur für zukunftsorientiert und fortschrittsgläubig halten. Denn bei all ihrer Progressivität war sie gleichzeitig eine in künstlerischer Hinsicht durch und durch reaktionäre Bewegung. Die sprachliche Form- und Sinnzertrümmerung – exemplarisch vorgeführt von Marinetti mit seinen «parole in libertà» (Wörter in Freiheit) oder von Chlebnikow in seiner «selbsttätigen» Dichtung («das Wort als solches»; «der Buchstabe als solcher») – war wohl als Befreiungsschlag gedacht, erweist sich aber, sieht man genauer hin, als ein Rückgriff auf vorliterarische Sprachqualitäten, die weit mehr mit esoterischer Wortmagie zu tun haben als mit progressiver formalistischer Dichtung.

Fortsetzung hier …

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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