Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Über Ilse Aichingers «Versuch zu danken»

Über Ilse Aichingers «Versuch zu danken»

 

Von Iwan Bunin stammt (aus der Zeit des Ersten Weltkriegs) der verstörende Imperativ: «Sollst zu Schwärze verbrennen …» Der ist mir wieder eingefallen bei der Lektüre, unlängst, von Ilse Aichingers Versuch zu danken, einem Widmungsgedicht aus dem Jahr 1985; so lautet der knappe Text:

Die genaue Ahnung,
das genaue Wissen,
Schutz und Zuflucht.
Die Helligkeit beim Eintritt
macht gewiss:
Hier ist einer durch die Schwärze gegangen
und bleibt.

Wofür bei diesem «Versuch zu danken» gedankt werden soll und wer der genannte Adressat des Dankes, Günther Adler, gewesen ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Der zu erbringende Dank scheint der Autorin schwergefallen zu sein, sie spricht ihn bloss versuchsweise aus. Ist, war er zu gross oder zu problematisch, um adäquat ausgesprochen zu werden?
Und wieso erfolgt der Dank in Gedichtform? In einer Form jedenfalls, die sich wegen der Zeilenbrüche als dichterisch zu erkennen gibt? Obwohl sich der Text weder in lautlicher noch in metrischer Hinsicht als Gedicht behaupten kann. Eher könnte man ihn, ungebrochen, als beiläufige Aufzeichnung, etwa als Tagebuchnotiz lesen. Denn ausser dem Parallelismus (genau/genau) der Eingangszeilen – «die genaue Ahnung / das genaue Wissen» – und dessen Kontrastierung durch den Gegensatz von Ahnung und Wissen weist das kleine Gedicht keine formalen Besonderheiten auf.
Bei der dritten Zeile bleibt unklar, ob «Schutz und Zuflucht» als Qualitäten von «Ahnung» und «Wissen» (oder von Genauigkeit) oder als Ergänzung dazu aufzufassen sind; unklar auch, weshalb hier «Zuflucht» und «Schutz» als praktisch gleichbedeutende Begriffe eingesetzt werden, und dies ohne irgendeinen Hinweis auf eine Gefahr oder Bedrohung, die Schutz und Zuflucht erfordert hätte.
Von einer «Helligkeit beim Eintritt» ist unmittelbar nachfolgend die Rede, von einer Helligkeit also, die erfahrungsgemäss eher beim «Austritt» aus einem dunklen Raum auffällig wird. Und was wird hier betreten? Eine schützende Zuflucht? Jedoch dort, wo Zuflucht gesucht wird, ist es in aller Regel nicht hell – nicht in der Höhle, nicht im Wald, nicht im Keller. Und gleichwohl lässt hier die Helligkeit Gewissheit aufkommen, aber Gewissheit wovon, worüber? Die letzten, die stärksten Verse des Gedichts geben darauf eine ebenso frappierende wie rätselhafte Antwort: «Hier ist einer durch die Schwärze gegangen | und bleibt.»
Wer hier mit dem «einen» gemeint ist (vielleicht der Adressat?) und was für einen Weg »durch die Schwärze» er hinter sich hat, bleibt offen. Feststeht einzig, dass der aus unbenannter Dunkelheit in die hiesige Helligkeit eingetretene Gast bleibt, wo sich ihm Zuflucht und Schutz, mithin auch Gewissheit eröffnet haben. – Vielleicht muss man tatsächlich «zu Schwärze verbrennen», um die hellste Gewissheit zu gewinnen?

 

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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