Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Undingpoesie (Teil 3)

Undingpoesie

 

Teil 2 siehe hier

Demgegenüber gibt es allerdings auch eine avancierte poetische Kultur, die primär von den neuen Medien geprägt ist und ihre Impulse und Themen und Stoffe vorwiegend aus der Infosphäre gewinnt. Die Schreibbewegung verliert hier jede Stringenz und scheint sich zunehmend den Gesten des Wischens und Scrollens anzugleichen, die ja bereits auch den alltäglichen schriftlichen Sprachgebrauch bestimmen. Die umtriebige dichterische «Avantgarde» von heute legt es – lange nach Jandl, Rühm, Pastior, Priessnitz u.a. – nicht mehr auf formale Experimente und Neuerungen an, sie operiert statt dessen vorzugsweise mit zufällig vorgefundenen, bald umgangssprachlichen, bald fachsprachlichen Versatzstücken, die syntaktisch (oder gar metrisch) kaum noch gebunden und bedeutungsmässig gänzlich disparat sind. Der Lyriker Farhad Showghi präzisiert: «Ein eher bei sich selbst verweilendes Sprechen, das sich mitunter erinnert, vernetzt, verwirft, abkoppelt, entbindet, doch nicht negiert, mit wiederholtem Re-entry in der Landschaft. Ein Sprechen zwischen dem Denken des Blicks und dem aktiven Schauen. Niemand befiehlt und niemand gehorcht.»

Personalstile können sich solcherart kaum noch herausbilden, sollen es auch nicht; was sich seit der Jahrhundertwende herausgebildet hat, ist ein unverbindlicher Zeitstil, den man gleichermassen als Google- und als Babelsprech bezeichnen könnte. Was einst als Dinggedicht geschätzt wurde, ist zur Undingdichtung mutiert und bezieht sich somit vorab auf Oberflächeneffekte; oder bildlich ausgedrückt – ihr Interesse gilt den schillernden, ständig sich verändernden Fettaugen an der Oberfläche der Fleischbrühe, und nicht der substantiellen Einlage, die darunter liegt.

… Fortsetzung hier

 

© Felix Philipp Ingold
aus unveröffentlichten Manuskripten

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