Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Wo bleibt die Zensur? (Teil 3)

Wo bleibt die Zensur?

Der russische «Zeitschriftensaal» als literarischer Freiraum

Teil 2 siehe hier

Mit welchen Mitteln im «Zeitschriftensaal» und den dort verfügbaren literarischen Medien Kritik geübt wird, will ich anhand zweier unterschiedlicher Beispiele verdeutlichen, zugleich darauf hinweisend, dass es sich dabei um das wohlbekannte Verfahren indirekter äsopischer Rede handelt, mit der die Zensur auch schon in der Sowjet- und Zarenzeit unterlaufen wurde.
So legte der Publizist Anton Kisim gleich zu Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in der Zeitschrift «Ural» eine ganz neue Lesart des altrussischen «Igor-Lieds» aus dem späten 12. Jahrhundert vor, eines Werks mithin, das seit 200 Jahren als Nationalepos hochgehalten wird und bis heute zur obligatorischen Schullektüre gehört. Doch statt den Fürsten Igor als Helden seines Feldzugs gegen die unterlegenen Polowzer zu bestätigen, führt ihn Kisim als ebenso berechnenden wie brutalen Kriegsherrn vor, der nach anfänglichen Teilerfolgen immer mehr unter Druck gerät und schliesslich am gemeinsamen Widerstand der Polowzer und ihrer Nachbarvölker scheitert: «Der Feldzug endete in einer niedagewesenen Katastrophe. Sämtliche daran beteiligte Fürsten kamen in Gefangenschaft, und von den 6000 Kämpfern konnten sich lediglich deren 15 retten.»
Für das russische Lesepublikum ist der kritische Aktualitätsbezug dieser negativen Umdeutung einer vaterländischen Helden- und Erfolgsgeschichte evident – ob sie historisch korrekt und haltbar ist, spielt dabei eine untergeordnete Rolle: Allein ihre Darbietung kommt einem Sakrileg gleich und mutiert vollends zur Provokation, wenn man sie auf Putins «Spezialoperation» bezieht. Die Zensur wiederum wird sich schwertun, diesen Bezug offenzulegen und zu sanktionieren, da sie damit die offizielle Desinformation über den Ukraine-Krieg indirekt bestätigen müsste.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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