Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Zum Ende schreiben (Teil 3)

Zum Ende schreiben

Teil 2 siehe hier

Ilse Aichingers Art zu Erzählen ist, genau genommen, das Aufzählen, ist das Festhalten punktueller Wahrnehmungen, die für andere Autoren … für die meisten andern Autoren nicht der Rede wert sind: «Genau sein. Kleine Dinge beobachten, Details. Punkte. Das Schreiben müsste punktueller sein.» Punktuell statt linear und progressiv, wie’s in der Belletristik allgemein üblich ist. «Es gibt Punkte, die da sind, viel mehr als die Gegenwart», betonte sie in einem ihrer späten Interviews; und man könnte hinzufügen – sie bedeuten und gelten auch viel mehr als die Geschichte. Obwohl bei Aichinger der tragisch verschattete Fond ihrer eigenen wie der epochalen Geschichte fast durchweg präsent bleibt, sind es doch immer wieder einzelne «Punkte» (Gegenstände, Wörter, sinnliche Wahrnehmungen, aktuelle Herausforderungen), die sich davon abheben und bei all ihrer Nichtigkeit sich dagegen behaupten – so wie (in der «Lobrede auf England», 2002) das Knirschen der Kreide auf der Schultafel sich gegen die Langeweile des Rechenunterrichts und die Rechthaberei der Algebra behauptet.
Aichingers «Punktualität» war Ausdruck ihres Willens zu strengster Kürze, ja, ihre Idealvorstellung literarischen Schreibens bestand darin, alles in einem Satz, wenn möglich in einem Wort auszusprechen und es solcherart, hochkonzentriert und definitiv, zu verwirklichen. Die Faksimiles, die man von ihren Manuskripten kennt, zeigen, dass sie Wörter und Sätze zumeist als eine Abfolge von unverbundenen Einzelbuchstaben aufschreibt, so als wäre für sie eben der Buchstabe das eigentlich tragende «punktuelle» Element ihrer Texte und das Buchstabieren ihre bevorzugte Schreibbewegung. Dass sie mit dieser minimalistischen Poetik die Sprache beziehungsweise den Sprachgebrauch überforderte, war ihr durchaus klar; dennoch versuchte sie konsequent, in kleinsten Schritten – Buchstabe für Buchstabe – ihrem Fernziel näherzukommen, um schliesslich zu erkennen, dass dieses Fernziel jederzeit (wenn auch nicht ohne Anstrengung) zu erreichen wäre, nämlich durch «Nicht-Schreiben», durch Hingabe an das Schweigen und die Akzeptanz des Todes. Damit hat Ilse Aichinger das letzte Jahrzehnt ihres Lebens verbracht.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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