Alles oder nichts?

Beim Übersetzen der späten Schreibhefte von Marina Zwetajewa halte ich, frappiert, bei dieser Notiz aus dem Jahr 1938 ein: „Ich bin heute nichts. Morgen werde ich alles sein.“ − Das ebenso schlichte wie pathetische Statement macht, jenseits von Eitelkeit und Grössenwahn, deutlich, dass innovative, schwierige, verkannte, wenn nicht gar, wie die Zwetajewa selbst, vom zeitgenössischen Literaturbetrieb weitgehend ausgegrenzte Autoren immerhin auf ein adäquates Nachleben hoffen durften, ja sich dessen sicher sein konnten.
Postumer Ruhm als Kompensation mangelnder Tageserfolge?
Dieses Bewusstsein … solches Vertrauen teilte Marina Zwetajewa mit Ossip Mandelstam, mit Andrej Platonow, mit Michail Bulgakow („Manuskripte brennen nicht!“) und andern russischen Autoren, die in den „wölfischen“ 1930er Jahren von der stalinistischen Kulturinquisition mundtot gemacht wurden.
Doch Ausgrenzung und Missachtung werden keineswegs nur von staatlichen Organen, etwa von Zensur- und Polizeibehörden, praktiziert, häufiger noch genügt als Grund dafür das hartnäckige Desinteresse und die Inkompetenz der wortführenden Literaturkritik angesichts starker Werke, die als schwierig, mithin als unzumutbar und elitär eingestuft werden. Rimbaud galt zu seiner Zeit weithin als Rowdy und Strolch, Mallarmé als Provokator und Idiot, Else Lasker-Schüler als unbedarfte Herumtreiberin, der Wortkünstler Hugo Ball als Sprachzerstörer.
Und erst Kafka!
Auch er blieb zu Lebzeiten wenig beachtet, war sich aber seiner Sendung und seines Könnens weit weniger sicher als Rimbaud oder die Zwetajewa, wollte sich deshalb postumer Verehrung entziehen, indem er seine Schriften dem Feuer vermachte – hätte Max Brod, Freund und Nachlassverwalter, seinen letzten Willen nicht missachtet, wäre Kafka kein Schulbuchklassiker geworden.
Derartige Richtigstellungen, die für die Betroffenen auch definitive Ehrenrettung mit sich bringen, wird es, fürchte ich, künftig nicht mehr geben. Kein starker Autor, der heute nichts ist, wird morgen alles sein. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Autoren selbst, grossmehrheitlich, nur noch an punktuellen Erfolgen und nicht mehr an bleibendem Ruhm oder Gedenken interessiert sind: Wer wollte schon postum zum Klassiker befördert werden, wenn es doch für das aktuelle Künstlerbewusstsein genügt, ein paar angesehene Preise zu kassieren und für eine Saison, bestenfalls für ein paar Jahre „Weltrang“ zu geniessen!
Das Warhol’sche Bonmot (das eigentlich eher ein Prophetenwort war), wonach fünfzehn Minuten globaler Bekanntheit künftig genügen sollten, um jedem künstlerischen Genie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist und bleibt in Kraft. − Was aber heisst hier „künftig“? Was heisst „Gerechtigkeit“? − Der von Warhol als „künftig“ prognostizierte Status von kurzfristiger Bekanntheit ist inzwischen für Stars aller Sparten verbindlich geworden und lässt sich, rein quantitativ, in Klicks und Likes relativ leicht errechnen und belegen. Und damit wird es dann auch − ob nach fünfzehn Minuten oder nach höchstens fünfzehn Jahren − sein Bewenden gehabt haben.
Doch wo wird dannzumal die Qualität geblieben sein? Jenes Kriterium, das einst ganz selbstverständlich mit Ruhm und vorab mit Nachruhm, mit Denkwürdigkeit und Kanonisierung korreliert war! − Qualität ist heute im Kunst- und Literaturbetrieb kein Obligatorium mehr, sie ist uninteressant geworden aus dem schlichten Grund, dass sie nicht, wie quantitative Errungenschaften, objektiv messbar und verrechenbar ist.
Ein „gutes“ Werk ist nicht mehr notwendigerweise ein gut gemachtes, gut durchdachtes Werk, primär wird nach seinem Unterhaltungswert gefragt, nach Spannung und Spass, kaum aber nach seiner künstlerischen Eigenart. Eher kommt es auf leichte Verständlichkeit, thematische Aktualität, rasche Konsumierbarkeit an, aber auch darauf, ob und inwieweit sich ein Text intermedial nutzen lässt − durch Übersetzung, Dramatisierung, Verfilmung, Vertonung, Lesung.
Aber ist das nun tatsächlich so „neu“? War Qualität nicht auch schon früher für die Werkrezeption und damit für den aktuellen Erfolg eines Autors eher hinderlich denn vorteilhaft?
Ich erinnere − beispielshalber − an Raymond Roussel, einen französischen Zeitgenossen Franz Kafkas und Marina Zwetajewas. Als ein Autor von höchstem künstlerischen Rang und rarer Innovationskraft blieb Roussel zu seinen Lebzeiten weithin unerkannt. Zwei Jahre nach seinem Freitod, 1935, erschien von ihm eine schmale Schrift des Titels Wie ich einige meiner Bücher geschrieben habe, ein didaktisch anmutender Text, der postum aufzeigen sollte, wie Roussels angeblich unlesbare Bücher zu lesen sind.
Es ist ein desolates, wenn nicht tragisches Vermächtnis: Da berichtet ein herausragender Sprachkünstler nicht nur über seine Arbeit am Text, er hält auch die Chronik seiner permanenten Misserfolge fest − bösartige Verrisse, grölendes Publikum, öffentliche Verunglimpfungen: „alle waren gegen mich“, „man behandelte mich wie einen Verrückten“, „die ganze Kritik stiess Schreie des Unmuts aus“, „niemand schenkte mir Aufmerksamkeit“, „Resultat: Null“ usw.
Doch was die Sache noch weit schlimmer macht, ist dies: Um wegzukommen von seinem Image als „schwieriger“, „unverständlicher“, „elitärer“ Autor gab sich Raymond Roussel immer wieder dazu her, als literarischer Unterhalter aufzutreten − mal rezitierte er unbedarfte Verse und begleitete sich dabei am Klavier, mal bot er auf Kleinbühnen kabarettistische Nummern dar, indem er berühmte Leute nachahmte und lächerlich machte.
Dass ihm eben diese beiläufigen Auftritte kurzfristig „enormen und einhelligen“ Erfolg einbrachten, während seine grossen Sprachwerke (Eindrücke aus Afrika, Locus solus) mit „fast einmütigem feindseligem Unverständnis“ abgefertigt wurden, musste Roussel als doppelt ungerecht empfinden. „Und mangels eines Besseren, flüchte ich mich“, so lautet der letzte Satz seines Vermächtnisses, „in die Hoffnung, ich könnte vielleicht postum zum Nutzen meiner Bücher einen kleinen Durchbruch haben.“
Solche Hoffnung scheint derzeit nicht mehr zu verfangen. Statt dessen vertraut man unter Literaten lieber auf den Tageserfolg mit beiläufigen Auftritten und saisonalen Publikationen.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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