Anonyme Autorschaft

Jean-Luc Godards späte Filmpoetik

Der Filmautor Jean-Luc Godard gehört schon lang zu den immer zahlreicher werdenden Kunstschaffenden, die sich nach eigenem Bekunden geradezu programmatisch „überall bedienen“, wo sie brauchbares Fremdmaterial – Bild-, Text-, Musikzitate – vorfinden, um daraus nicht nur ein eigenes Werk, sondern auch eine eigene „Wahrheit“ zu montieren. Das „Eigene“ ist hier allerdings in Anführungsstriche zu setzen, es steht bloss für die Eigenart, mit der die übernommenen Versatzstücke kunstvoll und unverhüllt zu einem Kompilat vereinigt werden.
Für Godard ist die Geschichte insgesamt (als Historiographie) und sind Geschichten im Besondern (als narrative Fiktionen) nichts anderes als kontextualisierte Zitate. Weder Geschichte noch Geschichten haben nach seiner Auffassung einen Autor, ihre Authentizität besteht darin, dass sie als Fiktionen Realitätsstatus gewinnen.
Alles je Geschriebene ist Geschichte, kompiliert aus Geschichten, die ihrerseits aus Fremdzitaten generiert werden. „Wenn Sie so wollen“, sagt Godard in einem Gespräch mit Youssef Ishaghpour, „ist Geschichte für mich das Werk aller Werke … Sagen wir, die Geschichte ist die Gesamtheit von allem. Das Kunstwerk, wenn es gut gemacht ist, entspringt der Geschichte, und wenn es will, so ist es ihr künstlerisches Bild.“
Ein solches künstlerisches Bild, ein „lebendiges“, ist der Film, der den Geschichtsverlauf – „die Zeit der Geschichte“ – vor Augen führt und ihr somit ihre „Existenz“ verleiht, derweil er die „Essenz“ dazu aus der Gesamtheit der Texte bezieht, aus dem Buch der Bücher. − „Und im Buch, das sich wie eine Kopie ausnimmt, wie eine verkleinerte Kopie, ist tatsächlich das Gedächtnis der Geschichte enthalten, eben weil sie entsprechend der Tradition des Buchs geschrieben und gedruckt worden ist.“
Aus diesem Buch, das heisst: aus allen gerade erreichbaren Büchern (von Balzac, Dostojewskij, Sartre, Blanchot, Foucault …) bezieht Jean-Luc Godard in seinen jüngsten Filmwerken – so in Film Socialisme – den Grossteil seiner Dialoge und Off-Kommentare (die er im Übrigen umstandslos mit spontaner Alltagsrede amalgamiert), und aus dem Fundus des imaginären Museums wie auch der klassischen Musik holt er sich die audiovisuellen Versatzstücke, die nachfolgend zu Bildsequenzen und Tonspuren zusammengeschnitten werden – so zusammengeschnitten, dass die Arbeit des Monteurs und die Eigendynamik der Montage kaum noch auseinanderzuhalten sind: Fremdzitate und Selbstaussagen werden gleichwertig zu diskontinuierlichen Bild-Text-Sequenzen verknüpft.
Bei Jean-Luc Godard wird diese Art von Hybridisierung besonders augenfällig, da in seinen Filmproduktionen die Fiktionalisierung von dokumentarischem Material einhergeht mit der dokumentarischen Aufarbeitung fiktionaler Entwürfe, und beides führt auf Seiten des Publikums (das dem Grossmeister bekanntlich weitgehend abhanden gekommen ist) in die tiefsten Tabubereiche.
Denn noch immer mag man in Sachen Kunst (wie übrigens auch im Unterhaltungssektor) auf zweierlei Dinge nicht verzichten: Auf namhafte Autorschaft und auf nachvollziehbare Repräsentation. Anonymität wirkt hier ebenso irritierend wie der Verzicht auf Darstellung und der Entzug von Bedeutung.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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