Autorität der Sprache?! 

Frage- und Ausrufezeichen gehören für diesmal zusammen. Tatsächlich wird die Autorität der Sprache gegenwärtig für fraglich, wenn nicht für obsolet gehalten – Grund genug, einmal wieder auf sie aufmerksam zu machen. Denn heute gilt als Autorität literarischen Tuns keineswegs die Sprache, sondern vorrangig der Autor, die Autorin als Person. Autorschaft wird weitgehend unabhängig von Sprachkritik oder auch bloss von Sprachbewusstsein betrieben wie ein ganz gewöhnliches Geschäft, gemäss Nachfrage, markt- und erfolgsorientiert, beglaubigt durch den Namen und obligatorisch auch durch das Bild des jeweiligen Verfassers.
Autorschaft als Urheberschaft ist längst nicht mehr gefragt, auch nicht als Könnerschaft. Literarische Preisträger aller Klassen bezeugen es; bezeugen, dass es ausschliesslich darauf ankommt, worüber einer schreibt, ob er thematisch aktuell ist, und keineswegs, ob und inwieweit er oder sie das Handwerk des Schreibens überhaupt noch beherrscht. Die meisten publizierten Texte, selbst die ausgezeichneten, sind ihrer sprachlichen Qualität nach unbedarft, formal nachlässig gefertigt, viel mehr von der Gebrauchssprache geprägt als von literarischen Normen.
Doch sollte man, eben darum, nicht vergessen, dass die Literatursprache von Literatur und Sprache nicht weniger geprägt ist als vom Willen und Können des Autors. Dies einzugestehen, fällt Autoren wie Autorinnen schwer, weil sie dadurch ihre alleinige Autorität eingeschränkt sehen. „Die Mitarbeit der Sprache am Text schwächt die Stellung des Autors, der nicht mehr für alles einzustehen vermag, was in seinem Text geschieht, und der nicht einmal weiss, was sein Text alles enthält, weil er das, was die Sprache mitbringt, nur unvollständig überblickt und kontrolliert“, hat einst Hans-Jost Frey dazu notiert; und er fuhr fort: „Es ist vor allem die Dichtung, in der die Autorität der Sprache vom Autor nicht nur als unvermeidlich geduldet, sondern als Hilfe begrüsst wird.“
Begrüsst werden sollte!
Freys wohl begründetes, an zahlreichen Textbeispielen und Beispieltexten erprobtes Plädoyer für die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung, zumindest die Bewussthaltung der „Autorität der Sprache“ ist längst verklungen und überzeugt heute nur noch wenige. Doch die Wenigen werden sich daran orientieren und dazu beitragen, dass die Sprache in der künstlerisch intendierten Literatur ihren Vorrang vor auktorialer Willkür – wie auch vor auktorialer Fahrlässigkeit – zurückgewinnt.
Autoritativ wird Sprache dort, wo man sie als solche sprechen lässt; wo sie, allein kraft des Wortklangs, auf eigene Weise Bedeutung konfiguriert. Der biblische Leitwortstil ist beispielhaft dafür; die Poesie bietet solcher Eigendynamik das weiteste Feld; manche philosophische Schlüsseltexte nutzen sie produktiv seit vorsokratischen Zeiten. Im 20. Jahrhundert gewinnt die Sprache mit Heidegger, Lacan, Derrida ihre höchste Autorität.
Frey selbst hat dieser Autorität im Hinhören auf die Sprache viel Raum gegeben. Ein Wort, so könnte man sagen, gibt bei ihm das andere. In einem kurzen Text (aus dem Band Wörter, Zürich 1994) mit dem Titel Wort entwickelt Frey, indem er die Assonanzen von „Wort“, „Ort“ und „fort“ (weg) zum Tragen bringt, lauter Sätze, die tatsächlich dem Klangleib der Sprache entstammen und nicht seinem eigenen begrifflichen Denken: „das wort ist der ort, wo etwas als das da ist, was nicht da ist. das wort wort ist der ort, wo der ort als das, was fort ist, da ist.“ Aus wenigen vorgegebenen Versatzstücken ergibt sich solcherart eine kohärente sprachphilosophische Reflexion.
An anderer Stelle (Lesen und Schreiben, Weil a. Rh. 1998) expliziert Frey dieses Verfahren – oder Geschehen – wie folgt: „So gibt es auch ein Schreiben, das als eine Sprachbewegung vor sich geht, die nicht eine vorgegebene, vorgenommene Aufgabe erfüllen muss, sondern sich Wort für Wort und Satz für Satz aus sich selbst heraus aufbaut und ihr Ziel in der inneren Stimmigkeit ihres Ablaufs hat. Ein solches Schreiben würde nicht reproduzieren, sondern brächte Schritt für Schritt hervor, was es sagt.“ Nebst assonantischen Attraktoren können dafür auch Anagramme, Palindrome, Homophonien und andere sprachliche beziehungsweise buchstäbliche Konstellationen genutzt werden.
Und nochmals Hans-Jost Frey: „Was sie [die Sprache] auslöst, kann zum Beispiel eine klangliche oder sonstige formale Beziehung zwischen Wörtern sein, die man vielleicht als solche für zufällig oder bedeutungslos hält, die aber dennoch plötzlich einen Gedanken hervorrufen kann.“ Und man merke: „Die Sprache, die sich aus der Abhängigkeit des Schreibenden löst, steht nicht mehr nur im Dienst der Mitteilung.“ – Dies und noch viel mehr ist nachzulesen in dem weitgehend unbemerkt gebliebenen Werk, das Frey unter eben diesem Titel vor zwanzig Jahren vorgelegt hat: Die Autorität der Sprache (Edition Howeg per Procura, Zürich/Lana 1999). Das Buch ist bleibende Herausvorderung, aber auch bleibende Hilfestellung für Autoren wie für Leser, die vorab an der Sache der Literatur interessiert sind – an Literatur als Kunst.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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