Der Vorleser im Kino

Trotz Müdigkeit bleibe ich schlaflos seit Tagen, zum Lesen fehlt mir die nötige Aufmerksamkeit und Konzentration, musste heute Nacht meine aktuellen Lektüren − Perrudja, Tarantas, Tschewengur − nach wenigen Minuten wieder weglegen, sah mir statt dessen zwischen zwei und fünf Uhr früh den längst verjährten Spielfilm nach Bernhard Schlinks Erfolgsroman Der Vorleser an. Merkwürdige Premiere.
Ein wenig beneide ich den Autor um diesen Stoff, bewundere im übrigen dessen dramaturgische Aufrüstung. Inhaltlich gäbe der Film, den ich nun erstmals gesehen habe, sehr viel zu reden, zu monieren, zu problematisieren: Wie wird eine Analphabetin unter den Nazis zur Lageraufseherin; wie kann sie später, ohne lesen zu können, von den Trambetrieben als Kontrolleurin beschäftigt werden; wieso behält sie ihre Leseschwäche über fast dreissig Jahre hin, obwohl sie am Lesen, an Literatur so stark interessiert ist; worin ist ihr Begehren, vorgelesen zu bekommen, begründet
Ebenso fragwürdig kommt mir die lebenslange Treue des „Vorlesers“ zu dieser Frau vor, die seine erste Geliebte war. Dass sie eine vielfache Möderin gewesen ist, erschüttert ihn zwar zu Tränen, aber es sind Tränen des Bedauerns, des Mitleids, nicht der Zerknirschung, schon gar nicht des Zorns. Während Jahren schickt er ihr seine Sprechkassetten ins Gefängnis, auch besucht er sie dort, richtet später, nach ihrer vorzeitigen Entlassung, eine Wohnung ein, so dass man am Ende davon ausgehen muss, dass er all dies tatsächlich deshalb tut, weil die Frau nicht nur seine erste, sondern auch seine letzte und wohl seine einzige Liebe gewesen ist. Allerdings bleiben die Qualitäten ungeklärt, die eine solche totale Liebe erklären könnten.
Starkes Schlussbild: Die gealterte KZ-Wärterin (die sich inzwischen selbst das Lesen beigebracht hat) baut in ihrem Zimmer einen Bücherstapel auf, besteigt ihn, legt sich eine Schlinge um den Hals, nimmt sich mit einem Sprung ins Leere das Leben.
Dass darauf noch eine sentimentale Nachgeschichte mit viel Tränen und Trauer folgt, macht den Film dann aber doch zur Klamotte.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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