Image und Ikone

Madonna? Madonna!
Da denkt einer heute doch zuerst einmal an die Madonna – die weltweit bekannte, auf vielen Kanälen präsente Sängerin, Tänzerin, Unterhalterin – und nicht an jene schlichte Jungfrau, die als Gottesgebärerin unter dem Namen Maria höchste Heiligkeit erlangte.
Wem gilt, heute noch, irgendjemand oder irgendetwas als heilig!
Die aktuelle Madonna geniesst womöglich mehr Bewunderung, wird eher nachgeahmt und angebetet als das junge Mädchen von damals, dem einfach so ein Gott in den Schoss fiel.
Denn das Heilige, das moralisch Makellose, die stille Grösse, das ganz und gar Uneigennützige – solche und ähnliche Qualitäten sind nicht mehr wirklich gefragt, sie lösen eher Spott denn Verehrung aus.
Während die heutige (also unsere) Madonna in ständig wechselnder Montur auftritt, mit wechselnden Klamotten und Frisuren, mit wechselnden Melodien und Rhythmen und überhaupt – wie ein Wechselbalg, ist Marias Auftritt als jungfräuliche Mutter und mütterliche Jungfrau über viele Jahrhunderte hin wenn nicht gleich, so doch einigermassen ähnlich geblieben:
Meist zeigt sie sich sitzend, bisweilen auch stehend, fast immer hält sie das Kind – den Gott – nah an ihrem Leib, in ihrer Armbeuge, auf ihren Knien und beugt sich liebend, betrachtend, schützend, meditierend über das merkwürdige (das des Merkens würdige) kleine Ding, das Gott und Kind in Einem ist, oft etwas unförmig, dicklich und vorzugsweise nackt, bald greisenhaft vergrämt, bald engelhaft strahlend, derweil die Kinds- und Gottesmutter in der Regel streng eingekleidet ist, vorzugsweise in Blau, manchmal in faltenreicher Üppigkeit, dann wieder in einfacher provinzieller Tracht, die Haare unterm Tuch verborgen, Schultern, Knie und Ellenbogen bedeckt, frei sind nur das Gesicht, die Hände, allenfalls die Mutterbrust.
So ergibt sich das Schema – man könnte auch sagen: das Klischee – der christlichen Mariendarstellung mit ihrem fast durchweg gleichbleibenden pyramidalen Aufriss. Diese Schemenhaftigkeit, durch die naturgemäss die Allgemeingeltung des Sujets betont wird, tritt besonders deutlich dann zutage, wenn die Darbietung der Madonna mit Kind auf Schwarz und Weiss beschränkt bleibt; wenn also nicht das Zusammenspiel der Farben und Volumen das Bild ausmacht, sondern ausschliesslich die flächenhafte Komposition weisser und schwarzer Versatzstücke, die der Blick des Betrachtenden nur dadurch zu einem Bild synthetisieren kann, dass er zunächst von Fall zu Fall klärt, welche der weissen und schwarzen Elemente als erhaben, als vertieft oder als transparent (als Leerstellen) zu gelten haben.
Indem Annelies Štrba zufällig vorgefundene, künstlerisch keineswegs hochkarätige Marienbilder auf solche Weise photographisch und reprotechnisch aufarbeitet, gelingt es ihr, die Klischeehaftigkeit des Motivs reduktionistisch zu verfremden und die übliche Konstellation von Mutter und Kind, Madonna und Jesulein ganz neu zu visualisieren. Die ansonsten gewohnte Lieblichkeit oder Versonnenheit solcher Bilder wird durch die harten Schwarz-Weiss-Kontraste radikal umgedeutet – sei es ins Plakative oder Maskenhafte, sei es ins Fragmentarische oder Ornamentale.
Staunenswert bleibt gleichwohl, dass selbst bei solch radikalem Verzicht auf sinnlich erfahrbare Bildqualitäten eine starke emotionale Wirkung von diesen schwarzen Madonnen ausgeht: Trauer ebenso wie Trost, Klage ebenso wie Erhebung. – Hier stellt sich der Zauber religiös grundierter Bildkunst ein, die mit immer wieder andern formalen Mitteln das Undarstellbare präsent macht, ohne bloss eine weitere Illusion davon zu schaffen. 

[Vorspruch zur Ausstellung Schwarze Madonna von Annelies Štrba, Galerie Anton Meier, Genf 2015.]

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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