Jenseits der Bedeutung harrt der Sinn

Beim Übersetzen einer neuen Lyrikauswahl von Marina Zwetajewa stosse ich zur Zeit des öftern an die Grenze des Verstehens beziehungsweise der Unverständlichkeit, halte mich immer wieder auf bei einzelnen Wörtern, Wortverbindungen, Metaphern, denen keine plausible Bedeutung abzugewinnen ist, Textstellen, die auch von muttersprachigen Lesern, deren Rat ich dankbar einhole, nicht erschlossen werden können.
Wie übersetzt man wohl Verse, Strophen, die man nicht oder nur annäherungsweise versteht? Was kann die Übersetzung noch leisten, wo eine (oder gar die) Bedeutung der fremdsprachigen Vorlage in keiner Weise einzuholen ist – und vielleicht auch gar nicht eingeholt werden soll? Weil der Autor, die Autorin sie bewusst im Dunkeln hält!
An eben diesem Punkt muss die Sinnbildung durch die Leserin oder den Übersetzer erfolgen. Statt Bedeutung zu ergründen und anzuwenden, müsste also Sinn entwickelt werden – Projekt statt Rückgriff –, und dies über den vorliegenden Originaltext hinaus. Die Übereinstimmung mit dem Urheber wird an dieser Stelle prekär, es eröffnet sich die Möglichkeit, dass Leser oder Übersetzerin einen eigenen Sinn entgegen den nicht eruierbaren auktorialen Intentionen herausbilden und durchsetzen, ohne sich der Sache sicher sein zu können.
Doch bleibt’s dabei: Entweder setzt man, ob korrekt oder nicht, Wort-, Satz-, Textbedeutung von einer in die andre Sprache über, greift also zurück auf etwas, das schon da ist; oder man transzendiert die vorgegebene, nicht erschliessbare Bedeutung durch energischen Eigensinn, der sich bewusst vom Original absetzt und darüber hinaus ins Offene weist. Das ist gleichermassen der Fall bei den Orakelsprüchen von Delphi, bei Texten der Mystik und der hermetischen Poesie bis hin zu Mallarmé, dem Dadaismus, Welimir Chlebnikow und Marina Zwetajewa.
Von der „starken Wirkung unverstandener und dennoch empfundener Bedeutsamkeit“ berichtet Hans Blumenberg in einem seiner späten alltagsphilosophischen Essays; um – schwankend zwischen Begeisterung und Resignation – zu konstatieren: „Das Unverstandene ist das grösste Trostmittel der Menschheit.“ Und Goethe sei dafür der beispielhafte Gewährsmann.

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Der Prozess der Sinnbildung jenseits faktischer und begrifflicher Bedeutsamkeit entspricht dem vektoriellen Wortverständnis von „Sinn“ (sensus) als „Richtung“ (ahd. sin, von sinnan, „streben“, „begehren“; idg. *sent– für „fortgehen“; frz. sens für „Richtung“, vgl. sentier für „Weg“). Im Unterschied zur stets vorgegebenen objektiven Bedeutung, die als solche verstanden, das heisst rekonstruiert werden muss, ist Sinn ein subjektiver, zukunfts- und innovationsorientierter gedanklicher Entwurf.
Dass auch diese Begriffs- und Funktionsbestimmung subjektiv geprägt ist, sei hier noch so gern zugestanden.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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