Kollegenschelte und Werkkritik

Kollegenschelte – Bashing, wie man heute sagen würde – ist unterm Rigorismus der sogenannten politischen Korrektheit weitgehend obsolet geworden. Vorbei die Zeiten, da Wolf Biermann (in seiner Büchnerpreisrede) den Kollegen Anderson vor illustrem Publikum als „Schwätzer Sascha Arschloch“ diffamierte und Michel Foucault (in einem Zeitungsinterview) dem weltweit verdienten Psychologen Jean Piaget zu verstehen gab, er sei „arm“ an Geist, mithin nur einfach – explizit − ein „Dummkopf“.
Derartige Anwürfe ad personam mögen peinlich, vielleicht schmerzhaft sein, doch das Werk der Betroffenen erreichen sie nicht; denn Gegenstand ernstzunehmender, d.h. sachbezogener Kritik kann einzig der Text, nie aber der Autor als Zivilperson sein, ganz abgesehen davon, dass viele Texte – literarische wie wissenschaftliche – ohnehin klüger und kompetenter, kurz „intelligenter“ sind als ihre Verfasser.
Es klingt ungut und wirkt infam, wenn ein Autor einen anderen Autor öffentlich kritisiert oder gar blossstellt. Wo es um politische oder ideologische Differenzen geht, mag die persönliche Schelte gerade noch akzeptabel sein, nicht aber – erstaunlicherweise – dort, wo das literarische Handwerk beziehungsweise die Literatur als Kunst zur Debatte steht.
Der Vorwurf, ein „ewiggestriger Linksintellektueller“, ein „dreister Selbstdarsteller“ oder ein „Neonazi“ zu sein, scheint bei einem Schriftsteller weniger schwer zu wiegen als der, schwache Romane oder, schlimmer noch, schwache Gedichte publiziert zu haben. Wenn es einst üblich war, dass Schriftsteller Werke von Kollegen kritisch besprachen und sich auch vor Verrissen nicht scheuten, ist eben dies nun ein seltener, kaum noch goutierter Ausnahmefall. Umgekehrt scheint niemand daran Anstoss zu nehmen, wenn ein Autor, eine Autorin (und das kommt weit häufiger vor) einen befreundeten Kollegen oder eine sympathische Kollegin kritiklos belobigt.

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Mir selbst ist es durchaus egal, von Kollegenseite wegen irgendwelcher „Meinungen“, „Ansichten“, „Provokationen“ gerügt zu werden, keineswegs egal jedoch, wenn mir ein schreibender Zeitgenosse konkrete Fehlleistungen bei der Schreibarbeit nachweist und zum Vorwurf macht. Eine schlecht instrumentierte Strophe, eine überdehnte oder unnötig überspitzte narrative Episode, eine fahrlässige, womöglich missverständliche syntaktische Fügung – solche und ähnliche Schwachstellen namhaft zu machen, sollte doch eigentlich ohne Beschädigung des betroffenen Autors als Person praktikabel, sogar wünschenswert sein. Zudem dürfte der schreibende Kollege … die schreibende Kollegin für die Beurteilung meiner literarischen Texte mehr Kompetenz mitbringen als irgendein Auftragskritiker oder Berufsgermanist. –
Wenn einst der russische Dichter Ossip Mandelstam die namhaften Kolleginnen Anna Achmatowa und Marina Zwetajewa herber öffentlicher Kritik unterziehen konnte, ohne dadurch seine enge Freundschaft mit ihnen zu gefährden, entsprach dies dem damaligen literarischen Alltagsgeschäft – Autorschaft und Zivilperson, Werk und Leben blieben vernünftigerweise und im vorrangigen Interesse der Literatur als solcher getrennt.

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Wie also ist es zu erklären, dass jeder auf den Textkörper gerichtete Angriff von den jeweils betroffenen Autoren als persönliche Attacke empfunden wird? Wie kommt es, dass sich Autoren mit sachbezogener Kritik generell schwer tun, manche von ihnen so schwer, dass sie an sich selbst zu zweifeln beginnen oder gar Schluss machen mit dem Schreiben?
Der Name des Autors wird bekanntlich im Normalfall gleichsam zum Werktitel, das Werk selbst (als corpus) zu seiner „Inkarnation“. In diesem irrigen Verständnis kann ja auch nach wie vor bedenkenlos gesagt werden, man lese „Musil“, „Roussel“, „Beckett“, auch wenn man nur einfach den Zögling Törless als Buch unter der Hand hat, oder Locus solus, oder Murphy.

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Zur Genüge kennt man auktoriale Selbstaussagen, wonach das Schreiben dem Leben – gleichsam – vorgeordnet, ein Leben ohne Schreiben also undenkbar sei. In solchem Verständnis hat noch Boris Pasternak ein drohendes staatliches Schreibverbot (für ihn gleichbedeutend mit dem Verlust der Sprache) allen Ernstes mit einem „Todesurteil“ vergleichen können, und viele seiner Kollegen, in Russland wie auch anderswo, bekräftigten ebenso selbstbewusst wie resigniert, dass für sie ein Leben ohne literarisches Schreiben wert- und sinnlos sei.
Widerlegen lässt sich eine solche Selbsteinschätzung nicht, rügen schon gar nicht; sie ist als Erfahrungstatsache zu akzeptieren. Doch macht sie deutlich, dass nicht nur gewöhnliche Leser und nachlässige Kritiker dazu neigen, Werk und Leben, Text und Wirklichkeit zu vermengen (wenn nicht gar zu verwechseln), sondern auch die Autoren selbst, die ihre Person und ihre Leiblichkeit mit dem von ihnen bewerkstelligten Textkörper identifizieren. So kann ein simpler Verriss tatsächlich zur Hinrichtung werden.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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