Literarische Hör- und Leseerfahrungen

Noch immer kann ich Hörbüchern oder CDs mit Autorenlesungen und literarischen Rezitationen nichts abgewinnen. Literatur ohne Schrifttext gewinnt bei mir keine Konsistenz, das Zuhören fällt mir schwer, das Gehörte verweht, bevor es begriffen ist.
Dabei ist mir durchaus klar, dass gerade die auditive, mehr noch die audiovisuelle Vermittlung von Poesie im aktuellen Literaturbetrieb besonders gefragt und entsprechend erfolgreich ist. Aus dem ingeniösen Singsang eines Ernst Jandl, Gerhard Rühm oder Oskar Pastior hat sich in direkter Linie die Rap-, Pop- und Slampoetry herausentwickelt. Da wie dort hat der Vortrag (die Vortragsweise) Priorität vor den Texten (dem Textverständnis), so dass die Intensität der sinnlichen Erfahrung (Rhythmik, Melodik) das Gesagte zumeist verunklärt: Das Sagen ist in diesem Fall dem Gesagten vorgeordnet, abgesehen davon, dass eine nachvollziehbare Aussage oft gar nicht intendiert ist.
Jandl und seinesgleichen mögen attraktive Rezitatoren ihrer eigenen Dichtwerke sein, dennoch ziehe ich deren Lektüre ab Blatt bei weitem vor. Ich kann nur dann verstehend und produktiv lesen, wenn ich die Lesebewegung selbst regulieren, wenn ich einhalten, im Text zurückgehen, Gelesenes noch einmal herbeiholen, überprüfen, bedenken, es unterstreichen kann.
Meine nachhaltigsten Lektüren bestanden schon zur Schulzeit darin, ganze Texte abzuschreiben oder auswendig zu lernen. Als Maturand kopierte ich (von Hand) diverse Kapitel aus Immanuel Kants und Max Schelers Schriften. Dutzende von Seiten aus dem Klugen Alphabet, meinem ersten Konversationslexikon, konnte ich damals problemlos memorieren. Später entdeckte ich das Übersetzen als eine besondere, besonders nachhaltige Technik des Lesens. Mit siebzehn, achtzehn Jahren las ich Dostojewskij, Tolstoj, Maupassant und auch schon Saint-John Perse im Originaltext, das Wörterbuch stets griffbereit.
Doch durchzuhalten waren solche Lektüren naturgemäss nicht. Es gab ja doch soviel zu lesen, dass zum Abschreiben oder Memorieren der Vorlagen keine Zeit blieb.
Erst jetzt, da ich keine beruflichen Lesepflichten mehr zu bewältigen habe und mir nur noch Texte vornehme, an denen ich persönlich interessiert bin (und worüber ich nicht auch noch schreiben muss), leiste ich mir hin und wieder den Spass und die Mühe, ein paar Druckseiten handschriftlich zu kopieren.
Auch eigene Texte kommen dafür durchaus in Frage – sich selbst beim Abschreiben wiederzulesen, kann einem Dinge vor Augen führen, an die man bei der ursprünglichen Niederschrift überhaupt nicht gedacht hatte und die nun nachträglich ein Supplement von Sinn erbringen.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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