Namenskunde 

Lew Schestows Sprachskepsis geht so weit, dass er Adam, dem ersten Menschen, zum Vorwurf macht, die Dingwelt mit Namen versehen und damit ihrer Wahrhaftigkeit beraubt zu haben – dies, obwohl Gott selbst ihn dazu aufgefordert hat.
„Und als die Namen einmal gegeben waren, fand sich der Mensch abgeschnitten von allen Quellen des Lebens.“
Das gilt allerdings ebenso für den Tod, der sich jeder begrifflichen Vergegenwärtigung, jeder Beschreibung, jeder Erklärung entziehe und der einzig in unartikulierter Rede irgendwie zum Ausdruck gebracht werden könne. „Doch Geschrei, Gestöhn und Geheul gelten unter Menschen nicht als Ausdruck der Wahrheit und werden deshalb“, meint Schestow (in Wagnisse und Unterwerfungen, 1923), auf jegliche Weise ,gelöscht‘ – non ridere, non lugere, neque detestari, sed intellegere.
Tatsächlich wollen die Leute nur Verständliches haben. Jenes ,Unverständliche‘, das in Schreien, unartikulierten Lautreihen oder andern, sprachlich nicht wiederzugebenden ,äussern‘ Zeichen zum Ausdruck kommt, bleibt für sie unverbindlich.“

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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