Personalstil gegen Epochenstil

Zur Zeit haben in der sogenannten schönen Literatur autobiographisch grundierte Lebens-, Liebes-, Familien-, Kindheits-, Krankheits-, Sterbe-, Reise-, Flucht-, Coming-out-Geschichten klaren Vorrang, und eben dieser neue, bald beschauliche, bald bekenntnishafte Realismus macht deutlich, dass und wie weitgehend sich die deutsche Literatursprache der Alltagssprache angenähert oder die Alltagssprache sich als Literatursprache durchgesetzt hat. − Entstanden ist aus diesem Gemenge ein epochaler Allerweltsstil, der die belletristischen Selbsterlebensberichte gerade nicht in ihrer Unverwechselbarkeit beglaubigt, sie vielmehr als eigens begradigte Trendprodukte ausweist.
Wie machtvoll sich dieser Stil, der die Stillosigkeit zum Prinzip erhebt, bereits durchgesetzt hat, zeigt eindrücklich der globale Erfolg von Autoren wie Knausgaard oder Houellebecq, aber auch, im deutschen Sprachbereich, die anhaltende Förderung und Beglaubigung derartiger Plauderprosa durch das Feuilleton wie auch durch namhafte Buch- und Literaturpreise.
Bei derart weitgehender Angleichung von Gebrauchs- und Literatursprache schwindet notwendigerweise der Kunstcharakter erzählerischer oder poetischer Texte. Wenn sich Literatur jedoch als Kunst behaupten will, muss sie sich von der automatisierten Alltagsrede emanzipieren, sich merklich von ihr abheben oder sie kontrafaktisch in Dienst nehmen, um im Gegensatz dazu einen eigenen Wirkungsraum zu erschliessen, eine besondere Wirkungsweise zu entfalten. Literatur muss, wenn sie sich künstlerisch behaupten will, als Garant für eine Sprache eigener Ordnung gelten können, eine Sprache, die nicht allein im Dienst des Gesagten steht, die vielmehr auf das Sagen selbst achtet und dessen Ausdrucksmöglichkeiten in uneingeschränkter Bandbreite zur Geltung bringt.
Das mag sich provokant und elitär ausnehmen, ist keineswegs neu, scheint aber weithin vergessen zu sein. Die gegenwärtig dominante Allerweltsbelletristik bezeugt’s – Nivellierung, Unifizierung bis zur Ununterscheidbarkeit individueller Stilbildungen. Plauderprosa, Plauderlyrik dominieren das Urteil (oder auch bloss den Geschmack) von Juroren und Kritikerinnen. Sperrigere Autoren mit eigenwilliger Sprachkultur gelten weithin als obsolet und müssen sich den stereotypen Vorwurf gefallen lassen, „es den Lesern nicht leicht zu machen“.
Dennoch – um so mehr! − sollte künstlerische Literatur ihr Publikum ernst nehmen, es beanspruchen und herausfordern auch mit formalen Zumutungen, statt ihm auf dem Niveau von unbedarften Blogs und Talkshows bloss noch mit leicht konsumierbaren Identifikationsangeboten zuzudienen.
Die Literatursprache als verfasste Hochsprache zu rehabilitieren, sie jedoch nicht über, sondern gleichberechtigt neben die Normalsprache zu stellen, das war schon – von Valéry über Pound bis hin zu Marina Zwetajewa − das Ansinnen der klassische Moderne, in programmatischer Opposition gegen die automatisierte und nivellierte Alltagssprache mit ihren offenkundigen Verfallstendenzen.
Diese Tendenzen haben sich inzwischen ebenso deutlich verstärkt wie die Imprägnierung der Sprach- und Sprechetikette mit fremden, vorab englischen Vokabeln und Redewendungen. Nicht nur die zeitgenössische Erzählliteratur, auch die Dichtung hat sich der solcherart veränderten Gebrauchssprache angepasst, und dies so weitgehend, dass diese von jener in manchen Fällen nicht mehr zu unterscheiden ist.
Dass „man“ nun vorzugsweise so schreibt, wie „man“ gemeinhin spricht, hat notwendigerweise den Schwund subjektiver Redeweisen und damit auch des einstmals sogenannten „Personalstils“ zur Folge. In der heutigen Belletristik − nicht anders als in der publizistischen Prosa − hat sich ein Allerweltsstil durchgesetzt, der kaum noch individuelle Prägungen erkennen lässt, dafür um so mehr kollektiven Redecharakter annimmt. Damit wird der gewohnte Aussage- und Verweisungscharakter der Sprache auch in literarischen Texten dominant, während gleichzeitig deren künstlerische und persönliche Ausformung vernachlässigt wird.
Von der gegenwärtig nachrückenden Schriftstellergeneration scheint dies nicht als Verlust wahrgenommen zu werden, eher schon als Befreiung von Formzwang und Kunstanspruch. Doch waren und sind es naturgemäss gerade die sperrigen, sprachlich unangepassten Autoren, die den Abstand zur Gebrauchssprache am deutlichsten markieren und damit auch deren Verarmung kritisch bewusst machen.
Angesichts der in die Krise geratenen Sprach- und Sprechkultur darf man Lektüreerfahrungen mit solchen Autoren durchaus tröstlich finden, denn „schwierige“ Literatur ist stets auch starke Literatur, und sie allein vermag plausibel zu machen, dass es tatsächlich der „Stil“ ist, der den „Menschen“ in seiner individuellen Eigenart für andere erkennbar werden lässt.
Es geht mir, was ich hier deutlich unterstreichen will, keineswegs darum, guten und schlechten Stil in Widerstreit zu bringen – alle Stillagen haben ihre Berechtigung. Ich wende mich allerdings gegen die Vermengung aller möglichen Stilformen zu einem platten General- oder Zeitstil, der auf möglichst leichte Konsumierbarkeit angelegt ist. Doch stets sind es innovative, zunächst vielleicht befremdliche Individualstile gewesen, die die Literatur als Kunst vorangebracht haben − die Epochenstile waren lediglich Ableitungen oder Ausfaltungen davon und tendierten stets zu Formschwäche und Konventionalität.
Stillosigkeit bedeutet für mich einen Mangel an individueller stilistischer Ausprägung und Konsistenz, und nicht einen grundsätzlich „schlechten“ Stil: Stillos, in meinem Verständnis, kann auch ein noch so brillant praktizierter Zeitstil sein, und umgekehrt ist es, wie bei Kronauer, Jelinek oder Botho Strauss, durchaus gängig, dass ein unverkennbarer, „starker“, „schwieriger“ Personalstil reichlich ungeschlacht daherkommt – nicht durch Anpassung an die defizitäre Alltagssprache, sondern in Durchsetzung der eigenen sprachlichen Unverkennbarkeit.
Das einst gängige Diktum, wonach der Stil der Mensch sei, hat seine Geltung weithin verloren. Sich durch seinen Stil als Individuum zu behaupten, ist kaum noch ein Interesse in einer Zeit, da alles – selbst Exzentrizität, Skandal, Sensation – zur „Normalität“ begradigt und, mehr noch, als solche gefordert wird. Bleiben also, bestenfalls, resignierte Fragen wie die des ungarischen Erzählers und Kulturktitikers Imre Kertész (in Der Betrachter): „Kann man noch in einer bedeutungsvollen Sprache das Wort ergreifen? Kann man Bedeutendes in einer unbedeutenden Sprache sagen? Kann man über grosse Dinge auf kleine Weise reden, ist das wirklich Grosse nicht die grosse Sprache selbst?“

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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