Starke Sätze

Hans Blumenbergs nachgelassene Schriften gehören seit Jahren zu meinen produktivsten (erhellendsten, anregendsten) Lektüren. Ich finde in diesem Autor einen Zuchtmeister präzisen, unentwegt forschenden und kritisch nachfragenden Denkens, habe grössten Respekt vor seinem umfassenden Wissen, das auch Abwegiges, Abstruses, Absurdes souverän umgreift, bin dankbar für viele Anregungen und Aha!-Erfahrungen, die ich aus seinen späten Fabeln und Anekdoten gewinne, fühle mich hin und wieder auch irritiert durch ein „Zuviel!“ oder ein „Wozu?“ schulmeisterlichen Insistierens, das zu überheblicher Besserwisserei tendiert.
Blumenberg ist ein Verfasser, von dem ich irgendwann einmal alles gelesen haben werde. In all seinen Texten finde ich, auch wenn sie mich (wie etwa seine weitläufigen, oft redundanten Studien zum Cusaner oder zu Edmund Husserl) thematisch kaum interessieren können, Relevantes, Frappierendes, unmittelbar Einleuchtendes, das mein eigenes Tun und Denken jäh herausfordert. Besonders ergiebig sind in dieser Hinsicht die ebenso scharf- wie tiefsinnigen Essays der späten Jahre zur Matthäuspassion, zum Schiffbruch, zu Quellen und Strömen, zur jungen Thrakerin, zur Metaphorik des Löwentums.
Jedes Buch von Blumenberg kann ich an jeder Stelle aufschlagen in der guten Gewissheit, auf einen Satz (auf zumindest einen Satz) zu stossen, der kontextfrei für sich stehen kann und als solcher für mich eine Geltung gewinnt, die − vielleicht − über das hinausgeht oder hinter dem zurückbleibt, was der Autor damit hat sagen wollen. Gerade lese ich wieder die hochspezialisierte, erbarmungslos spitzfindige Abhandlung zur Husserlschen Phänomenologie (Zu den Sachen und zurück), deren Lektüre ich mir, als philosophischer Laie, durchaus ersparen dürfte, angesichts von mehrheitlichen Aussagen wie dieser:
„Reflektierend ,unterbricht sich‘ das Subjekt, um seiner unmittelbaren Affektion ebenso unmittelbar den Akt der Reflexion beizugeben, so dass in derselben Dimension zwei diskrete, aber zueinander strikt homogene Erlebnisreihen entstehen: die der Wahrnehmung und der Reflexion.“ − Ich kann diese rein begriffliche Beschreibung des Phänomens der Intermittenz und den damit gekoppelten Gedankengang mitvollziehen, kann erkennen, worauf es Blumenberg ankommt, habe keinerlei Grund zum Widerspruch, finde aber keinen Ansatzpunkt, das Verstandene mit einem für mich relevanten Sinn zu verbinden.
Anderseits kann ich mich darauf verlassen, dass Blumenberg, meist beiläufig, zu Formulierungen kommt, die wie eigenständige Aphorismen eine Vielzahl von Assoziationen auslösen oder mich in schwebende Nachdenklichkeit versetzen; Sätze wie diese:

„Ein Subjekt ohne Reflexion ist widerspruchsfrei denkbar.“

„Jedes Subjekt mischt sich ein.“

„Nichts ist reparaturbedürftiger als die Erinnerung, und dafür gibt es Unablässigkeit der Arbeit.“

„Dennoch ist die Erinnerung ein Faktum: Es könnte sie auch nicht geben.“

„Das Kunstwerk wäre genauso schön und geniessenswert, wenn man es sich nur in der Phantasie vorzustellen brauchte, was man freilich auch können müsste, wozu wiederum man leider und zufällig nicht imstande ist.“

„Die Befunde von Fremdwahrnehmung und Erinnerung sind einander ganz nahe, auch wenn man auf die reinste Ausprägung blickt.“

„Der Traum war der alte Feind der Philosophie, das vitalste Argument jeder Skepsis.“

„Wer für alles frei werden will, wird es für nichts bleiben.“

Usf. − Und all dies auf wenigen Seiten. − Und wie viele Frage- und Ausrufezeichen dabei ins Kraut schiessen?! − Blumenberg hat die professorale Rede nie ganz hinter sich gelassen, sein pädagogischer Eros scheint ihn durchweg zum Erklären und Belehren anzuhalten, doch eben dabei unterlaufen ihm Sätze wie die oben zitierten, riskante Sätze, die eigenmächtig aus der sonst so rigiden Diskursivität ausscheren, ins Vage und Offene weisen, Fragen und Zweifel aufkommen lassen, und eben daraus gewinnen sie ihr aufklärerisches Potential.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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