2005-09-18

I

Für 24 Stunden findet hier in der jurassischen Provinz wieder das jährliche Literatur- und Lesefest statt. An verschiednen Orten im Klosterareal von Romainmôtier und in privaten Räumen wird Stunde für Stunde eine Lesung angeboten. Beginn war gestern Abend im Kulturhaus L’Arc. Vor fünf Zuhörern las im Kaminraum ein mir unbekannter Dichter aus der Region die grossen zyklischen Dichtungen Winde (Vents) und Vögel (Oiseaux) von Saint-John Perse, offenkundig gut vorbereitet und persönlich engagiert. Das zum Schwelgerischen tendierende Pathos des grossen Franzosen wirkte in der unaufgeregten, vom hiesigen Dialekt leicht eingefärbten Rezitation ganz natürlich, die langen Verse von Vents schienen tatsächlich getragen zu sein vom Wind – der Atemluft – des Vorlesers.
Um Mitternacht folgte im selben Raum ein Vortrag aus Dantes Commedia, präsentiert aufgrund einer neuen französischen Prosaübersetzung von einem Gymnasiasten in rotem T-Shirt. Zu dritt bildeten zwei Frauen und ich das Publikum. Der Junge trug mehrere Gesänge aus der «Hölle», dem «Fegefeuer», dem «Paradies» vor, etwas zu rasch und immer wieder sich verhaspelnd, aber mit rarer Begeisterung; bisweilen unterbrach er die Lesung, um jedes Mal darauf hinzuweisen, wie grossartig diese Dichtung doch sei und wie sehr er bedaure, sie nicht vollumfänglich vorlesen zu können …
Draussen strähnender Regen, tiefe Dunkelheit trotz Vollmond und … aber der Glücksmoment dauert nach, das schöne Bewusstsein, dass man auch hier, abseits der Welt und unter ganz wenigen Gleichgesinnten, von solchem Wind erreicht werden kann – vom lebendigen Atem der Dichtung.

II

Während der Ringlesung (in der Stadt nennt man das Lesemarathon) gibt es hier einen Büchermarkt; in Bananenschachteln auf alten Wirtshaustischen ist antiquarische Literatur aufgehäuft, von ein paar Freiwilligen zusammengetragen aus der Region. Zentnerweise Makulatur liegt da zum Wühlen ausgebreitet, Buchklubausgaben, viel Esoterisches, Bildbände über exotische Länder und Völker, religiöse Literatur aller Art, Kochbücher, Medizinisches usf.
Einer meiner ersten, ziemlich fahrigen Zugriffe gilt einer Anthologie mit schmutzig gelbem Lederrücken, sofort erkenne ich das Buch aufgrund seines Formats und seiner Aufmachung als eine Publikation der Büchergilde von Lausanne, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs für die Vermittlung französischer Literatur (von Gide und Valéry bis hin zu Francis Ponge) eine bedeutende, man könnte sagen: progressive Rolle spielte.
Der rare Band, jetzt für wenig Geld in meiner Hand, enthält unterm Titel Poètes d’aujourd’hui auf knapp 400 grossformatigen Seiten Gedichte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ausgewählt und herausgegeben von Jean Paulhan und Dominique Aury. Neben den obligaten Namen von Claudel über Max Jacob bis hin zu Jean Follain und einigen damals noch kaum anerkannten Autoren wie Antonin Artaud und Joe Bousquet enthält die Anthologie – und das macht sie zu einem Fundstück besonderer Art – auch längst wieder vergessne, obzwar einst berühmte Dichter vom Schlag eines Henry J.M. Levet oder Vincent Muselli, dazu in gesonderten Rubriken je eine Reihe von «Sonntagsdichtern», genialischen «Kinderautoren» und, eigens hervorzuheben, dichterischen «Übersetzungen» zeitgenössischer französischer Autoren wie Larbaud, Prévost oder Pierre Jean Jouve.
In meiner hiesigen Bibliothek gab es bisher keine vergleichbar anregende, vielfältige und tatsächlich repräsentative Anthologie wie diese «Dichter von heute», und eigentlich ist es zu bedauern, 
dass Paulhan/Aury mit ihrem einzigartigen Unternehmen nicht Schule gemacht haben. Denn die Poesie einer Region oder Epoche besteht ja keineswegs nur aus perfekt ausgebildeten Blüten, die man im Herbarium aufbewahren möchte, sondern – mehrheitlich – aus kurzlebigem buntem Gewächs, aus schmächtigen Blümchen, aus Unkraut auch. Ohne die weitläufige dichterische «Wiesenfabrik» mit ihrer Artenvielfalt und Ausschussproduktion würde kaum eine Blume zur Anthologiereife heranwachsen.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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