2007-02-11

Die Reise ist seit langem geplant, jetzt trete ich sie an, zusammen mit einigen schattenhaften, mir unbekannten Personen, als deren Führer oder Sprecher Simon Morris auftritt. Wir befinden uns in einem weitläufigen Bahnhof- oder Flughafenkomplex, überall stehen Geld-, Ticket-, Snackautomaten, Selbstschussapparate, einarmige Banditen, Überwachungsgeräte usf.; ich sehe von hier oben – während in der Tiefe mein Schatten in Form eines gigantischen Adlers dahingleitet – eine breite, vorspringende Landzunge, der Weg über die Nehrung bis zum Seeanstoss ist rot eingefärbt wie auf einer geographischen Karte und führt in ziemlich grader Linie nach Land’s End; eine U- oder Schnellbahn wird gleich abfahren, doch nein, wir haben noch keine Tickets, auch kein Kleingeld, keine passenden Kreditkarten; Simon und Morris erledigen das Problem mit souveräner Lässigkeit, sie benutzen eine Passepartoutchipkarte, die Tickets lösen sie an einem der Automaten, der, von innen gelb und blau beleuchtet, wie eine Jukebox aussieht und dem sie jovial auf die durchsichtige Plastikschulter klopfen; wir – «ich» weiss noch immer nicht, wer «wir» sind – steigen ein, befinden uns nun in einem Grossraumwaggon, dessen Intérieur an einen Raddampfer gemahnt; man installiert und verpflegt sich, der Waggon, der Dampfer erweist sich als eine Art Hotel mit unzähligen kommunizierenden Räumen, Galerien, Korridoren; sehr viele Leute sind hier dicht zusammengedrängt, scheinen sich aber wohl zu fühlen, flüsternd zischen sie einander Namen und Flüche zu; ich liege neben einer mir halbwegs bekannten Frau mittleren Alters, sie trägt schulterlanges schnittlauchartiges Haar, hat ein breites Gesicht mit hohen Wangenknochen und schmalen, leicht schräg stehenden Augen; die Frau beugt sich über ihren Schreibtisch, hackt auf einen dicken Kinderlaptop ein, ihre mädchenhaften, leicht auseinander stehenden Brüste schillern grün und blau im wehenden Blusenausschnitt, es kommt, während die Frau unentwegt weiterschreibt, zu ein paar oberflächlichen sexuellen Annäherungen zwischen ihr und dem Ersten Offizier, den sie zu provozieren scheint, den sie aber bei jedem nur angedeuteten Übergriff heftig abwehrt; wir bangen jetzt auf den flachen, mit Profilgummi bezognen Stufen eines verfallenden Fussballstadions, ein hohes Mädchen überquert in betont aufrechtem Gang den verrotteten Rasen, sie wirft uns aus ihrem grauen Gesicht einen Blick zu, während sie wieder und wieder zu einem der Dachfenster hinaufwinkt, aus dem wie wolkige Atemluft ein Vorhang weht; nun wird mir bewusst, dass ich mein Gepäck im Zug zurückgelassen habe, ich trage ein Pyjama, dazu ausgetretne Slippers, die mir ständig von den Füssen rutschen, ich habe kein Hemd, keine Hose, keine Schuhe griffbereit, suche in verschiednen Räumen des Hotels nach dem Gepäck, stehe unversehens am Fuss einer breiten steilen Treppe, die mit zahllosen Menschen besetzt ist; eine resolute Dame im Businesskostüm beginnt eine Veranstaltung zu moderieren, sie hält ein Bündel Papiere in der Hand, redet und redet und bittet jene Frau, die ihren Laptop jetzt auf den Knien hält, das Glaubensbekenntnis vorzulesen; die Frau lehnt ohne zu zögern kategorisch ab: aber ich hab doch die Mens, vielleicht, so fügt sie hinzu, kann meine tote Schwester das machen; im Hintergrund rechts steht mein Vater reglos über einen Spaten gebeugt, Mutter ist damit beschäftigt, einen mächtigen Grab- oder Gedenkstein in den Rasen einzulassen; ich erkenne auf dem noch schräg stehenden Stein in griechischen Lettern meinen Namen als goldne, fast schon verwitterte Gravur, sehe im selben Augenblick, wie der Stein senkrecht auseinanderbricht und den Namen in zwei selbständige, nun aber deutsche Wörter trennt, während er langsam und lautlos in der Erde versinkt.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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