Alltagswelttheater

I

Als der russische Theatermann Nikolaj Jewreinow am 7. September 1953 im Pariser Exil starb, nahm weder die breitere Öffentlichkeit noch die Fachwelt merkliche Notiz davon. Jewreinows vielseitiges, einst international erfolgreiches, dabei höchst umstrittenes Schaffen war schon damals und blieb auch in der Folge nachhaltig vergessen. Das könnte … sollte sich nun ändern. Denn seit Jewreinows Rehabilitierung im postsowjetischen Russland sind diverse seiner Schriften in umfänglichen, extensiv kommentierten Nach- und Erstdrucken erschienen, die als Basis für eine neue Annäherung an seine literarische und theoretische Hinterlassenschaft dienen könnten. Jewreinows Werk umfasst, soweit es heute überschaubar ist, rund sechzig, zumeist noch unveröffentlichte Bühnenstücke, dazu Dutzende von Buchpublikationen und weit über tausend Aufsätze, Kritiken, Notate zu unterschiedlichsten Theaterfragen, nicht zuletzt zu seiner eignen Arbeit als Dramatiker, Regisseur, Schauspieler, Bühnenbildner oder Komponist.
Kurzfristigen Weltruhm erwarb sich Nikolaj Jewreinow mit seiner Tragikomödie Die Hauptsache (1921), die in 18 Sprachen übersetzt und in 26 Ländern gespielt wurde. Luigi Pirandello brachte das Erfolgsstück 1925 in Rom auf die Bühne – er glaubte in Jewreinow einen Autor zu erkennen, der mit ihm die Überzeugung teilte, dass zeitgenössisches Theater vorab im Wechselspiel von Wirklichkeit und Illusion, Persönlichkeit und Kunstfigur, Antlitz und Maske sich zu bewähren habe. Für Jewreinow wie für Pirandello, dessen Bühnenklassiker Sechs Personen auf der Suche nach einem Autor ebenfalls 1921 uraufgeführt wurde, galt jedenfalls gleichermassen, dass nicht das Theater auf das Leben, sondern das Leben auf das Theater einwirken und dieses von jenem gleichsam imprägniert werden sollte.
Als «Narr Seiner Hohheit des Lebens» hat Jewreinow, der mit Shakespeare die Welt für eine einzige grosse Bühne hielt, sich selbst bezeichnet; als «Theatrarchen» der russischen Moderne, als Scharlatan, als Magier, als Exzentriker, als Genie, als Revolutionär hat man ihn, über Jahrzehnte hin, gleichermassen belobigt und beschimpft – sein künstlerischer Rang wird bis heute höchst kontrovers eingeschätzt, ist jedenfalls in der Theatergeschichte noch nicht definitiv festgeschrieben. Dass es zu Jewreinow weiterhin keine verlässliche Biographie (und übrigens auch keine zusammenfassende Werkmonographie) gibt, ist wohl der penetranten Selbstpropaganda und Selbstmystifikation zuzuschreiben, die sein Leben und Wirken als eine grosse, Realität mit Fiktion durchmischende Inszenierung erscheinen lassen.

II

[Zumindest ein paar Eckdaten zu Nikolaj Jewreinows Leben und Werk seien hier eingerückt: Geburt 1879 in Moskau; 1901 Abschluss eines juristischen Studiengangs und Eintritt ins Petersburger Konservatorium (Klavier, Komposition); 1907/1908 Berufung (als Nachfolger von Wsewolod Meyerhold) ans «Alte Theater»; 1908 Veröffentlichung von Jewreinows frühen Stücken in Buchform, gleichzeitig Erstdruck seiner Apologie der Theatra­lität; 1909–1912 Theoriebildung und praktische Erprobung des Monodramas; 1910–1917 Intendant, Regisseur und Hausautor des neu gegründeten Revuetheaters «Zerrspiegel», für das Jewreinow über einhundert Inszenierungen erarbeitet; theoretische Hauptwerke: Das Theater als solches (1912), Das Theater an und für sich (3 Bände, 1915–1917); 1917–1920 Aufenthalt im Kaukasus (nicht dokumentiert); ab 1920 wieder in St. Petersburg (freie Theaterarbeit, zahlreiche Reisen), 1925 Emigration (über Warschau und Prag) nach Paris; 1926 Aufenthalt in den USA, danach (bis 1929) mit schwindender Resonanz Weiterarbeit in Paris.
Die letzten 25 Jahre seines Lebens, darunter die Kriegsjahre 1939–1945, verbringt Jewreinow in äusserster materieller Not, belastet von schweren gesundheitlichen Problemen; er schreibt eine Geschichte des russischen Theaters von den ältesten Zeiten bis 1917, die erstmals 1947 in Paris (fanzösisch) und nochmals postum (russisch) in New York erscheint – in der Art eines diskursiven Monodramas stellt Nikolaj Jewreinow in diesem egomanischen Alterswerk die gesamte russische Theaterkultur der Moderne als seine ureigene Schöpfung dar – und sich selbst, naturgemäss, als deren Vollender.]

III

In seinem meistgespielten Bühnenwerk, Die Hauptsache, lässt Jewreinow unter dem Namen Paraklet («was Ratgeber, Helfer, Tröster bedeutet») ein Alter ego auftreten, dem er nebst zahlreichen andern Bonmots und Lehrsätzen über das Theater die folgende Rede in den Mund legt: «Denken Sie daran, meine Herrschaften, dass ich ins Theater gekommen bin nicht um ein Gesetz zu brechen, sondern um es zu erfüllen. Ich kämpfe nur einfach – zusammen mit dem offiziellen Theater als einem Labor der Illusionen – auch für ein inoffizielles Theater, das als Ausverkaufsmarkt jener Illusionen zu betrachten ist, ein Theater, das noch weit mehr Reformen braucht, da es nichts anderes ist als – das Leben selbst! Das Leben, das auf die Illusion nicht weniger angewiesen ist als diese Bühne und dem wir, da uns nun mal die Kraft fehlt, den Bedürftigen das Glück zu bringen, wenigstens eine Illusion bieten müssen. Das ist die Hauptsache.
Das Gesetz, dem hier «offiziell» wie «inoffiziell» Nachdruck verschafft werden soll, ist auf zwei durchaus unterschiedlichen Ebenen zu beachten. Diese schliessen sich zwar gegenseitig aus (Theater versus Leben), doch gleichzeitig – kraft des gemeinsamen Nenners der Illusion – bedingen sie einander auch (Leben gleich Theater): Indem Jewreinow die künstliche Theatralität des institutionalisierten Bühnenbetriebs mit der natürlichen Theatralität des Alltagslebens gleichsetzt, erhebt er einerseits die Theatralität zum gemeinsamen Prinzip von Kultur und Natur und versöhnt er andrerseits das wirkliche Leben mit der Scheinwelt der Kunst.
Den Täuschungsmanövern der Theaterwelt entsprechen nach Jewreinow die Täuschungsmanöver, die in der Lebenswelt (soziales Rollenspiel beim Menschen, Mimikry beim Tier) gleichermassen üblich und notwendig sind. Theatralität und Theatralisierung sind denn auch die Grundbegriffe seiner Theatertheorie, die er als «Philosophie des Theaters» verstanden wissen wollte und die er immer wieder mit einschlägigen Zitaten von Schopenhauer oder Nietzsche effektvoll unterfütterte: Die Welt als Wille und Vorstellung und den Willen zur Macht ergänzte er durch den Willen zum Theater, den er für ein primäres, «instinkthaftes», «vorästhetisches», auf permanente «Verwandlung» angelegtes Bedürfnis des Menschen hielt. Mit oftmals verwendeten Slogans wie «Jeder Mensch ein Schauspieler!» und «Jede Minute – Theater!» glaubte Jewreinow auch jenseits der «offiziellen» Theaterwelt 
ein breites Publikum erreichen zu können. Das von ihm propagierte «Theater an und für sich» war auf das Theater als Institution, war auf Bühne, Vorhang, Kulissen, Beleuchtung nicht mehr angewiesen. Angewiesen war es lediglich auf den «Acteur», und «Acteur» konnte, ja musste jedermann sein, denn jeder – der Bürokrat wie der Landstreicher, die Stenotypistin wie die Prostituierte – war als «Acteur», als «Actrice» geboren.

IV

Am reinsten sah Jewreinow diese natürliche, von ihm «inoffiziell» genannte Theatralität beim Kind, beim «primitiven» Menschen, sogar beim Haustier verwirklicht. Dass etwa ein kleines Mädchen die fünf Finger seiner linken Hand in verschiedenen Rollen sprechen lässt und solcherart ein Stück aufführt, ist für ihn eine elementare theatralische Leistung, die dartut, dass Theater nicht als Abbild, vielmehr als Vorbild des Lebens zu gelten hat. Nicht die Nacktheit, sondern die Maske ist, wie Jewreinow mehrfach unterstreicht, das Primäre und Natürliche; nicht der Wille, «ich» oder «selbst» zu sein, ist für das Leben bestimmend, sondern das ständige Begehren, sich zu verwandeln, in immer wieder neue Rollen sich zu begeben, der unabweisbare Wunsch, ein andrer zu werden, statt bloss «sich selbst» zu verwirklichen – und notwendigerweise zu scheitern dabei. Das «Theater an und für sich», dem die Theatralität immer schon als kollektiver wie als individueller Instinkt eingeschrieben ist, kann auf sämtliche Theatralisierungsmassnahmen des traditionellen, als Kunst praktizierten Theaters verzichten, es bleibt einzig auf den «Acteur», auf dessen Körper, auf dessen sinnliche Ausdruckskaft angewiesen.
Im Unterschied zum «offiziellen» Schauspieler hat der «inoffizielle» Darsteller nicht eine vom Dramentext vorgegebene Bühnenfigur zu repräsentieren und auch nicht nur, im Gegenzug dazu, sich selbst in seiner Individualität zu zeigen, er hat seine eigene Verwandlung in einen andern, zu etwas anderm vorzuführen und 
glaubhaft zu machen – nicht also ein Anderssein, das mit dem Fall des Vorhangs und dem Rückfall ins «wahre Leben» sein Ende hat, sondern ein Anderswerden, das dem permanenten Wandel und damit der «natürlichen Theatralität» des «wahren Lebens» entspricht. «Die Hauptsache besteht darin», heisst es in Jewreinows Theater an und für sich so kurz wie bündig, «ein anderer zu werden und etwas anderes zu machen.» Allein dort wird theatralische Authentizität erreicht, wo der «Acteur» – ein Mensch wie du und ich – sich als das zu erkennen gibt, was er sein möchte, worein sich zu verwandeln er im Begriff ist. Vorbildlich für diese Art von Theatralität sind primitive Initiationsriten und andre Verwandlungspraktiken, wie man sie von Schamanen kennt oder von schwarzen Priestern, die sich Tierhäute überziehen, sich mit Federn schmücken, um ihr Anderswerden – in diesem Fall ihre Verwandlung ins Animalische, ins Dämonische – vorzuleben.

V

Darzubieten ist solche Verwandlung (die immer auch Verfremdung und Vervielfältigung ist) am ehesten in Form des Monodramas, das bei Nikolaj Jewreinow eine besondre Ausprägung findet und als privilegierte Dramenform gilt. Diese Dramenform ist darauf angelegt, «ein äusseres Spektakel zu bieten, das dem innern Spektakel des Subjekts der Handlung entspricht». Ein Spektakel solcher Art holt den Zuschauer aus der Reserve, macht ihn zum Mitspieler, zum Kunstteilnehmer, lässt ihn aber auch die Theatralität seines eignen sozialen Verhaltens, seiner eignen Gefühlswelt erfahren. «Das Monodrama zwingt jeden Zuschauer dazu, sich in die Lage des Schauspielers zu versetzen, sich in dessen Leben einzuleben, d.h. so zu fühlen und illusorisch zu denken wie er … Prüfstein des Monodramas ist das Erleben des Darstellers auf der Bühne, das ein gleichartiges Miterleben des Zuschauers bedingt. Dieser wird im Akt des Miterlebens seinerseits zur handelnden Person.»
Das Monodrama ist hier nicht etwa bloss ein Einpersonenstück, es ist ein Stück mit beliebig viel Personal, das sich aber insgesamt auf einen und nur einen Helden bezieht, zu dessen Charakterbild es verschiedne Facetten liefert. Die handelnden Personen werden nicht als Kontrahenten oder Partner des Helden eingesetzt, sie verkörpern lediglich dessen wechselnde Ansichten und Seelenzustände, treten wohl als eigenständige Figuren auf, stehen jedoch ganz unter der Herrschaft des Helden, dem sie intim angehören und dessen Wandelbarkeit sie, gleichsam heraustretend aus ihm, anschaulich machen. Nur so, meint Jewreinow, sei eine Theaterfigur authentisch und ganzheitlich in ihrem Werden vorzuführen.

VI

Es gehört zu Nikolaj Jewreinows persönlicher und künstlerischer Tragik, dass manches von dem, was er im Rahmen seiner innovativen Theaterarbeit angefangen, ausprobiert, wortreich dargelegt oder auch nur behauptet hat, erst viel später – ohne dass er damit in Verbindung gebracht worden wäre – durchgesetzt und allgemein akzeptiert wurde. Man denke an das «Psychodrama» (Moreno), an das «Theater der Grausamkeit» (Artaud), an das «arme Theater» (Grotowski), an den «Situationismus» (Debord), an Kunstformen wie das Happening und die Performance, aber auch an neuere Theoriebildungen zur «Inszenierung des Alltagslebens» (Goffman) oder zu öffentlichen und intimen «Rollenspielen» (Sennett) – und man wird zugeben müssen, dass all dies bei Jewreinow, mehr oder minder explizit, bereits ausgearbeitet, zumindest vorgeformt oder als Theorie entworfen ist.
Schwer zu sagen, was ihn um die Früchte seiner staunenswerten theatralischen Imagination gebracht hat und wie sich seine vorauseilende Originalität in den Niederungen persönlicher Marotten und Eitelkeiten hat verlieren können. Mag sein, dass derjenige, der sein Leben bewusst und konsequent zu einem 
Theaterereignis macht, in dessen Mittelpunkt er selbst als Hauptdarsteller agiert, mit dem Ende der Vorstellung und dem Fallen des Vorhangs tatsächlich seine Schuldigkeit getan, also definitiv abzutreten hat. Für eine Wiederkehr Jewreinows in die heutige Theaterwelt gibt es jedenfalls noch keinen ernst zu nehmenden Hinweis.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00