Atemregel

«Solange ich atme, schreibe ich.» Mit diesem späten, erst postum veröffentlichten Statement hat Canetti sein oftmals angekündigtes Vorhaben dementiert, das Leben durch eine endlose Schreibbewegung endlos verlängern, mithin auch den Tod endlos aufschieben zu wollen. Eher möchte man das Atmen mit dem Sprechen als mit dem Schreiben in Übereinstimmung bringen, doch hier steht Atmen wohl eher allgemein für Leben. Eine andere Lesart würde Canetti gewiss besser entsprechen: Solange ich schreibe, atme ich.
Canetti kam es, nach eignem Bekunden, je älter er wurde desto weniger darauf an, das Sagen zu haben und Recht zu behalten. Wenn er gleichwohl bis zuletzt mit forciertem Eigensinn an seiner «behauptenden» Redeweise festhielt, die im Wesentlichen blosse Widerrede, mithin «reaktionäre» Rede war, tat er es doch, wie manche seiner Aufzeichnungen erkennen lassen, mit schwindender Überzeugung und wachsender Resignation.
Gegenüber den grossen, den ernsten, wahren, bleibenden, gleichsam in Stein gehauenen Worten, die Canetti ebenso bewundert wie verabscheut hat, gab es gleichberechtigt, jedoch während Jahrzehnten verdrängt und schliesslich beinahe vergessen stets auch die «Regel des Atems», jenes sanfteste Gesetz, von dem das Wort nicht beherrscht, sondern jeglicher Bedeutungsschwere enthoben und ins kurzfristige Verlauten entlassen wird.
Von Hermann Broch hatte Canetti einst etwas für ihn «vollkommen Neues» erfahren, nämlich dass es einen bestimmten Dichtertypus gebe, «der sich durch die Art seines Atems bestimmen» lässt, und mehr als dies – der die Menschen in seiner Umgebung nicht nach Aussehn oder Charakter beurteilt, sondern nach deren Atemraum: «Sollte es nur auf die Zärtlichkeit ankommen», so lautet ein rätselhafter Eintrag in Das Geheimherz der Uhr, «die man in Späteren weckt? – Auf erinnerten Atem und unverwirrte Worte?»
Atem, Luft, Hauch, Rhythmus, Flug – für Canetti waren und blieben dies in der Folge die Grundbegriffe einer vorliterarischen, wenn nicht gar vorsprachlichen Poetik, die das Wort, den unartikulierten Laut und auch das Schweigen gleichermassen umgreifen sollte. Darüber hinaus bekennt er mit pauschalisierendem Ingrimm, dass er «alles verachtet, was nicht Atmen, Empfinden und Einsicht ist». Selbst das deutsche Wort «Atem» möchte Canetti einer Fremd-, ja einer Ursprache zuordnen, er glaubt «etwas Ägyptisches und etwas Indisches» aus ihm herauszuhören. Der Atem beherrscht auch die Stille, strukturiert sie. Umgekehrt kann Stille geatmet werden und können Worte Atem schaffen: «… der Atem meines Lebens ist das Wort.»
Canetti vermag sogar, wie er selbst einmal festhielt, «in Atemzügen» zu schreiben, sein «Âtman» ist eingelassen in den Schreibgrund: «Ich atme frei nur über weissem Papier». Den einfachen Laut, das schlichte, aus dem Atem sich ergebende Klingen und Verklingen des Worts setzt Canetti an vielen Stellen seines Werks der «versammelten Gewalt der Bücher» entgegen, das heisst dem verschriftlichten Machtwort, das, um sich unantastbar zu machen, mit «furchtbarem Ernst» seine Bedeutung vorgibt und zumeist nur eine Lesart zulässt.
Canettis Hellhörigkeit für fremde, ihm unbekannte Sprachen (wozu für ihn nicht zuletzt die Tiersprachen zählen), sein Interesse an unverständlichen, vor allem sakralen Texten (bei gleichzeitiger Ablehnung dichterischer «Unverständlichkeit»), seine Faszination durch unerklärliche Begriffe und Namen – von alldem scheint sein Nachdenken über das Wort zutiefst geprägt gewesen zu sein, tiefer als die eigne jahrzehntelange Arbeit am und mit dem Wort. Die Verknappung, die dadurch bewirkte Intensivierung des sprachlichen Ausdrucks, aber auch dessen Verundeutlichung hat er in seinen Aufzeichnungen mit immer wieder neuen Begründungen und Beispielen zum Postulat erhoben, während er gleichzeitig – als Erzähler, als Autobiograph, als Ver
fasser von Masse und Macht – ebenso selbstbewusst wie selbstkritisch um das «grosse Buch» rang.
Mit dem Älterwerden hat sich Canetti vermehrt klarzumachen versucht, welche Art von Sprache seinen Möglichkeiten und Ansprüchen am ehesten genügen könnte. Das Alter und damit auch die stetig näher rückende Konfrontation mit dem Tod eröffnete ihm, wie seinen späten Notaten zu entnehmen ist, neue Zugänge zum «kleinen» Wort, das zwar nicht für seine unentwegten Kämpfe taugte, ihm aber adäquat war in Augenblicken skeptischer Selbstbefragung. Denn bei aller Todesverachtung machte sich Canetti keinerlei Illusionen darüber, dass seine Jahre und Werke gezählt waren, dass es auch für ihn dereinst ein «letztes» Wort geben würde.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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