Beobachtung

Dass die meisten Menschen (Leute) ein Gesicht haben; und nur eins. Und dass die meisten dieser Gesichter einen bestimmten Ausdruck haben; nur einen. Die Wirkung eines solchen Gesichts ist denn auch, wie bei der Maske, von fragloser Eindeutigkeit, und da sie immer schon eintritt, bevor man den Menschen, der das Gesicht trägt, kennenlernt, verfestigt sie sich rasch zum Vorurteil, so dass die Person sofort als Typ wahrgenommen und auf bestimmte Erwartungen festgelegt werden kann, folglich auch sofort festgelegt wird. Das ist in manchen Fällen ein Nachteil. Denn wer mit einem stets gleich bleibenden Babyface begabt ist, mit den ebenmässigen Zügen der klassischen Schönheit, der typischen Zuhälterschnauze oder dem hellen Kopf des Intellektuellen, der hat … hätte bisweilen deutlich mehr zu bieten, als was man ihm oder ihr auf den ersten Blick zutraut. Doch solcher Mehrwert wird in solchen Fällen meistens verkannt, der Vorschein des unwandelbaren Gesichts ist, ob als schön oder hässlich oder gewöhnlich empfunden, wie ein verfestigter Schleier, der die sogenannten innern Werte verhüllt. Daher das Problem der schönen Frau, die als Künstlerin, als Unternehmerin ernst genommen werden möchte, deren perfekte Gesichtszüge aber lediglich ein Cover- oder Cybergirl verraten und alle andern persönlichen  Qualitäten  ausblenden.  Was  ebenso  für  jenen Staranwalt gilt, der – klein und krumm gewachsen, wie er ist, mit pockennarbiger Haut und schütterem Haar – sehr viel mehr Anstrengung investieren muss, um den Augenschein, den er abgibt, durch Leistung, Rhetorik, Reichtum u.a.m. richtigzustellen. Leichter haben es dagegen Menschen «mit vielen Gesichtern». Auch wenn die vielen Gesichter, über die jemand verfügen kann, oft zu Skepsis Anlass geben, erwecken sie doch in jedem Fall Interesse. Wandelbare Gesichtszüge lassen, im Unterschied zum maskenartigen Pokerface, manche Wahrnehmungsmöglichkeiten offen, wecken unterschiedliche Erwartungen, provozieren vage Wünsche oder Befürchtungen. Anderseits wirkt das «ewig Kindliche», der «ständige Verdruss», das «immer schon Greisenhafte», das «dauernde Lächeln» auf diesem oder jenem Gesicht irritierend dadurch, dass es als eine eigens übergezogne oder schicksalhaft vorbestimmte Maske aufgefasst wird, deren Undurchdringlichkeit letztlich immer etwas ungut Geheimnisvolles zu verbergen scheint. Ich erinnere mich, weit zurückdenkend, wie diese Irritation mich als Kind jedesmal ratlos werden liess, wenn beim Puppenspiel der lustige Kasperle mal wieder vom bösen Krokodil oder von einem Räuber hart auf den Kopf geschlagen wurde, wobei er dennoch unentwegt lachte und weiterlachte, derweil aus dem lustig geschürzten Grossmaul seine Schmerzensschreie drangen.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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