Beschwert

Vom Ursprung unterschei-
det sich alles. Auch
der Unterschied. Wie vom
Lied das Leid. Wie
von den Beiden die Zwei.
Im winzigsten Ei
wird der Maiglöckchenduft
zum Ereignis.
(Eigens treffen sich
hier Blitz und
Kern zum Sprung.)
Der einzige Zeuge hebt
die Uhr dicht
vors Gesicht. Da
bleibt sie stehn genau
um Null. Zu früh
und für immer.
(Wie das Gegengewicht
in dem die Zukunft
das Vergangene beschwört.)

Kommentar
I

a) Ich muss, um zu schreiben (genauer: um ein Gedicht zu schreiben) nichts Besonderes erlebt, erlitten oder verbrochen haben.

b) Gegenstand des Gedichts sind nicht – ich setze die paar folgen – den Negationen als selbstverständlich voraus – aussersprachliche Fakten, ist nicht die sogenannte Wirklichkeit; auch Gefühle, irgendwelche Erregungen, Erinnerungen, Überzeugungen haben keinen Platz, finden keinen unmittelbaren Ausdruck, keine Form im Gedicht.

c) Gefühle, verdichtet zur Gefühlslage, können die Entstehung des Gedichts konditionieren, gehen aber nicht thematisch ins Gedicht ein, bestimmen auch nicht dessen metaphorisches Gefüge.

d) Um ein Gedicht zu schreiben, brauche ich nichts anders als ein beliebiges Schreibgerät, einen beliebigen Schriftträger und – ein Wort; denn ich versuche, aufs Wort genau zu schreiben. Ein beliebiges Wort genügt dazu allerdings nicht, es muss ein Reizwort sein, das als Kern- oder Leitwort tauglich ist. Als solches kommt, in der Funktion eines Impulsgebers, jedes Wort, nicht aber irgendein Wort in Frage.

e) Anlass und Gegenstand des Gedichts ist nicht die aussersprachliche Wirklichkeit, sondern die Sprache selbst als Wirklichkeitsform.

f) Mit einem Wort beginnt, naturgemäss, ein jedes Gedicht, beginnt dessen Niederschrift, auch wenn jenes Wort, das jeweils am Anfang da war, keineswegs immer – bei mir meistens nicht – seine Stellung am Anfang des Gedichts behauptet.

g) Ohnehin müsste ich’s genauer sagen: Nicht bloss mit einem Wort, vielmehr als Wort beginnt das Gedicht; das Gedicht ist nichts andres als ein sich auslebendes, zu einem Text sich entfaltendes Wort.

h) Der Prozess dieser Ausfaltung verläuft keineswegs linear, er vollzieht sich, mäandernd, in Sprüngen und Brüchen, wird nicht von meinem Aussagewillen als Autor gesteuert, ist nicht durch logische oder syntaktische oder prosodische Regulative bestimmt, sondern beruht erstens und vorzugsweise auf klanglichen, zweitens auf metaphorischen (bildhaften), schliesslich auf intertextuellen (zitathaften) Assoziationen.

i) «Wenn man wüsste, aus was für Mist Gedichte wachsen» (eslib znali, iz kakogo sora rastut stichi …), hat einst Anna Achmatowa halb im Scherz und doch ganz im Ernst festgehalten. Wissen kann «man» das, als Leser, nicht; «man» weiss es auch nicht immer genau genug als Autor. Der Mist, alltäglicher Wortmüll, ist Nährboden und wird darüber hinaus, ohne dass «man» es sich versieht, zum Füllstoff, zum Gleitmittel, zur Gärsubstanz des Gedichts.

j) Das Gedicht möchte ich hier, für die Dauer der nachfolgenden Explikation, als mein Gedicht verstanden wissen, dazu aber gleich auch sagen, dass es «mein» Gedicht einzig als «das» Gedicht gibt; dass das Gedicht vorab «es» (selbst) ist; dass das Gedicht, jedenfalls der Sprachstoff dazu, eher gefunden als erfunden wird; dass «mein» Gedicht das Gedicht ist, das unter meiner Hand – ich schreibe Gedichte immer von Hand – sich aus einem Wort, einer Wortverbindung zum Text entfaltet, indem es, von mir eher zugelassen als gewollt, am Leitfaden lautlicher und anderer Assoziationen Gestalt gewinnt und dabei, stets zufallsbedingt, immer wieder neues, ihm adäquates, zu ihm passendes Sprachmaterial an sich zieht, um es, in immer wieder neuer Konstellation, in sich fortwirken zu lassen. Ich nenne solche Wörter oder Wortverbindungen Attraktoren, wissend, dass ich damit begrifflich zu kurz fasse; Attraktoren – Wörter mithin, die gleichsam nach ihrem eigenen Echo rufen, die aber dieses Echo nicht bloss «anziehen», sondern es, als sein Impulsgeber, überhaupt erst auslösen.

k) Dass das erste, das Impuls gebende Wort, wenn es als Attraktor fungieren soll, ein bestimmtes und vorbestimmendes Wort sein muss, entspricht meiner Schreiberfahrung. Vielleicht kommt ein solches Wort vom Nebentisch im Café Odeon, vielleicht von einem Handyuser, der in der Strassenbahn unnötig laut vor sich hin lamentiert, vielleicht auch aus der Tageszeitung, aus den Radionachrichten beim Frühstück, aus einem Mahnschreiben der Swisscom, einem Privatbrief, einer Reiselektüre; die Quelle ist ohne Belang. Wichtiger ist die schlichte Tatsache, dass ich stets mein Moleskine Notizbuch bei mir habe – das mobile Archiv, in dem ich vorgefundenes Sprachmaterial ablagere, sei’s in Form von Eintragungen (Vokabeln, Zitaten, Exzerpten), sei’s in Form von kleinen Dokumenten (Zeitungsausrissen, mit Text bedruckten Zuckertütchen, Kinokarten u.ä.m.), die ich im integrierten Faltfach aufbewahre.

l) Ein jeweils erstes Wort ist plötzlich da, unerwartet und unmotiviert, und aber sofort fängt es an zu wirken. Die Wirkung besteht darin, dass das Wort – nunmehr also ein ganz bestimmtes und nur dieses Wort – attraktiv wird und selbsttätig (man realisiert nicht wirklich wie und warum) andre Wörter an sich zu ziehen beginnt, wobei die Anziehung zunächst rein lautlicher Natur ist, sich auf klangähnliche Elemente bezieht und erst allmählich grössere Verbindungen eingeht, um schliesslich syntaktische Strukturen, Sätze, Verse, Strophen herauszubilden. Ich frage die jeweils herangezognen Wörter ab nach jenen andern Wörtern, die sie real oder virtuell in sich tragen und die ich dann auch aus ihnen herausarbeite, um so etwas wie einen «verwandtschaftlichen» Textverbund zu schaffen. Das Gedicht baut sich nun, von solchen Grundkonstellationen ausgehend, als Klanggestalt auf, wobei es allmählich, generell, seine Sprachstruktur zu erkennen gibt und sich, naturgemäss, mehr und mehr auch mit Bedeutungen anreichert, die von den wechselseitig sich anziehenden Wörtern selbst­verständlich mitgeführt werden. Diesen unwillkürlichen Bedeutungszuwachs beobachte ich erst mal, versuche ihn in der Folge diskret zu lenken und sehe zu, wie er sich allmählich, von mir durch neues Wortmaterial zusätzlich alimentiert, zu einer wie auch immer gearteten «Aussage» erweitert, einer Aussage mithin, die nicht meinem auktorialen Wissen und Wollen folgt, sondern der assonantischen Attraktivität einiger wenigen Schlüsselwörter, die dadurch zu Leitwörtern werden und die Gedichtentstehung – bis zur Herausbildung seines grammatischen Baus – weit mehr determinieren als das, was ich als Autor allenfalls zu sagen hätte, falls ich’s denn überhaupt, in Gedichtform, zu sagen beabsichtigte. Oder anders, diesmal mit Ossip Mandelstam, gesagt: Ein marmornes Reiterdenkmal wird nicht zu Ehren dieses Herrschers oder jenes Heerführers errichtet, sondern zu Ehren des Marmors und zur Aufdeckung von dessen innerer Struktur; dass das Denkmal für diesen oder jenen Würdenträger erstellt wurde und an ihn erinnern soll, ist eine ausserkünstlerische, rein bedeutungsmässige, meist symbolische Funktion, die zur Demonstration 21 seiner Materialität und Machart einen Sekundäreffekt bildet.

m) Doch nicht nur klangliche Assoziationen kommen beim Schreiben zum Zug, es können sich aus sprachlichen Klangereignissen unversehens rhythmische, dann syntaktische und grammatische Strukturen, schliesslich auch Metaphern herausbilden, die eigentlich nicht gesucht wurden, nicht gewollt waren und gleichwohl ihre Richtigkeit haben; es kann sich da und dort eine unerwartete Sinnbildung anbieten, woraus immer wieder neue Vernetzungen entstehen, die zuletzt insgesamt die Sprachgestalt des Texts ausmachen – das Gedicht, das für sich spricht und sich gehört.

II

n) Ich will diesen Prozess mit einem konkreten Beispiel aus meiner aktuellen Schreibarbeit verdeutlichen, ihn gleichzeitig erläutern. Beispielhaft ist weniger das Gedicht in seiner definitiven Fassung (S. 22) als vielmehr die Entstehungsweise, genauer: die Verfertigung des Gedichts. Das Gedicht – mein Gedicht – gewinnt seine Form aus doppeltem Antrieb; einerseits, wie erwähnt, aus sprachlicher Selbsttätigkeit, anderseits aus dem ordnenden, struktur- und sinnbildenden Zugriff des Autors. Die Entstehung des Gedichts – meines Gedichts – ist also ein zufallsbestimmtes, durchweg ziel- und interesseloses Werden im Zusammenwirken mit diskret steuernden und vernetzenden Schreibgesten.

o) Das erste Wort, das ich am 6. Juni 2003 – ich sass im Wartezimmer meines Hausarztes – beiläufig notierte, war die Verbform «beschwört». Das Wort wurde zwischen zwei ebenfalls wartenden Patienten beiläufig, fast flüsternd ausgesprochen. Ich schrieb es unten rechts auf eine neue Seite – beschwört – und setzte gleich, diesmal oben links, das ähnlich klingende Wort «beschwert» dazu, etwas später folgten, nun bereits dem lautlichen Attraktor gehorchend, «bewehrt» und «bewährt» sowie «wert» und «Wert» und «wer ehrt».

p) Ich liess das Notizbuch aufgeschlagen auf dem Nebensitz liegen und griff ziemlich gedankenlos nach einer Gesundheits- oder Werbebroschüre, von der einige Exemplare Zum Mitnehmen auf dem ovalen Klubtisch ausgelegt waren. In der Broschüre fand sich unter der Rubrik «Nachgeforscht» ein kurzer Beitrag mit dem Titel «Spermien haben einen feinen Riecher». Da ich bald ins Sprechzimmer gerufen wurde, steckte ich die Drucksache ein; erst als ich unterwegs nach Hause wieder in der Strassenbahn sass, schaute ich mir die Broschüre genauer an.

q) In dem kleinen Forschungsreport aus der Bochumer Universität war die Rede davon, dass Spermien offenbar mit Riechrezeptoren versehen seien, die ihnen die Ortung der Eizelle erleichtern oder überhaupt erst ermöglichen. Der Riechstoff der Eizelle, so hiess es in dem Bericht weiter, sei am ehesten «dem Duft der Maiglöckchen ähnlich». Was mich, abgesehen vom durchaus amüsanten Inhalt des Berichts, frappierte, war die mehrfache Wiederkehr des Doppellauts «ei» im Textverlauf. Das «Ei» war hier nicht bloss zentraler Gegenstand der Mitteilung, sondern auch, als Lautgebilde, der zentrale Attraktor, der – nicht anders als das Ei die Spermien – ihm entsprechende Klangkerne anzog. Zum «-ei-», hier als Silbe, als Diphtong begriffen, passte das «-ai-» aus Maiglöckchen, passten aber auch die «ei»-Verbindungen in weib­, zeig­, gleich­, zwei­ u.a.

r) All diese Ableitungen notierte ich gleich in dem Moleskinebuch, das ich wie immer bei mir hatte. Aber erst zwei Tage danach, am 9. Juni, entstand das Gedicht, das jetzt den Titel Beschwert trägt und dessen letztes Wort – «beschwört» (das ich als erstes aufgeschrieben hatte) – einen fernen echoartigen Reim dazu bildet.

s) Für die Niederschrift des Gedichts verwendete ich die leere Rückseite einer Xeroxkopie, auf die ich nun einige jener Wörter aus dem Notizbuch übertrug. Oben links waren dies die Wörter «beschwört», «bewährt» und «wert», und über die Seite verteilt gab es – noch ohne jeden Zusammenhang – die Wortgruppen «Ei», «Mai», «zwei», «beide» und weiter unten, nach rechts gerückt, kamen die homophonen Silben «Ur-» und «Uhr» dazu; zwischen «Ur-» und «Ei» ergab sich, diesmal nicht aufgrund zufälliger phonetischer Attraktion, sondern von mir gewollt, ein erster Bedeutungsbezug (ab ovo). Die nachfolgende semantische Vernetzung des Wortmaterials erfolgte im Wesentlichen im Klangbereich u – i / ie – ei.

t) Dieser Klangbereich wird gleich im ersten Vers markiert, und er entspricht ja auch, wie eben angemerkt, der semantischen Nähe von «Ur-» und «Ei». Mit einer dreifachen Folge von u-Lauten («Ursprung», «unter­») wird direkt hingeführt zu «-ei­». Da der Zeilenbruch mit der Worttrennungsstelle («unterschei-») zusammenfällt, ist hier der Doppellaut ei besonders exponiert, er kündigt das Wort «Ei» an, dessen Bedeutung («Ursprung») bereits vorgegeben ist, und er ist zugleich der Klangkern, aus dem im Weitern eine Reihe von bereits notierten, ähnlich klingenden Einzelwörtern entfaltet wird («Leid», «Beiden», «Zwei» usw.), wobei auch die Umkehrung der Letternfolge ei zu ie, phonetisch also ei zu i eine Rolle spielt («unterschei-» / «Unterschied», «Leid» / «Lied»). Mit «Ur-» und «Ei-» ist assoziativ – durch Vermittlung von «Ursprung» – auch das Wort «Eisprung» verbunden, das im Gedicht explizit nicht vorkommt, auf das aber mittelbar verwiesen wird auf der Lautlinie Ei – Ereignis – Eigens – (Sprung), wobei im letzteren Wort «Sprung» die lautliche Umkehrung («-ru-») wiederum an «Ur(sprung)» erinnert. Der «Sprung» in Ur- und Eisprung wird auch typographisch realisiert durch den Zeilensprung gleich im ersten Vers («unterschei-»).

u) Als semantisches «Gegengewicht» – man könnte auch sagen: als logischer Gegenzug – zum «Ursprung» und mithin zum «Ei» wird am Schluss des Gedichts die «Zukunft» eingeführt, die ihrerseits, als Wort, auf lautlicher Ebene durch das zweifache silbentragende u den Ursprung (hier «das Vergangene») und den «Eisprung» evoziert. Von daher versteht sich nun auch, dass das Gedicht mit dieser Beschwörung und also mit dem einst erstnotierten Wort endet.

III

v) Nicht nur manches aus dem populärmedizinischen «Spermien»-Bericht ist, direkt oder indirekt, ins Gedicht eingegangen, auch ein bekannter Zweizeiler von René Char hat die Textentstehung beeinflusst. Während des Schreibens sind mir diese Zeilen in der faksimilierten Handschrift des Dichters – nachgedruckt auf der Rückseite eines Taschenbuchs – vor Augen gekommen; sie lauten: «Si nous habitons un éclair, / il est le cœur de l’éternel

w) Ich habe mir dazu, zwischendurch, ein paar Übersetzungsmöglichkeiten durch den Kopf gehen lassen, mich vorab gefragt, was es mit dem «Herzen» (cœur) des Ewigen auf sich hat. Ein beiläufiger Versuch hat folgende Lösung erbracht: «Ist ein Blitz unsre Bleibe, / wird er zum Ewigkeitskern.» Zweimal kommt auch hier das «-ei-» mit, in «Bleibe», in «Ewigkeitskern». – Demgegenüber würde die wörtliche Übersetzung etwa so lauten: «Wenn wir einen Blitz bewohnen, / ist er das Herz des Ewigen.» – Im Französischen wird «cœur» nun aber keineswegs nur in der Bedeutung von «Herz» verwendet, das Wort steht auch allgemeiner (und zumeist metaphorisch) für die Mitte, für ein Innerstes, Wesentliches sowie für Mut, für Tapferkeit (etwa in avoir du cœur, «beherzt sein»).

x) Mit dem entstehenden Gedicht hat sich das Wort «cœur» aufgrund zweier lautlicher Charakteristika vernetzt, einerseits durch die finale Letternkombination «-ur» (zu «Ursprung», «Uhr»), anderseits durch die relative Klangähnlichkeit von «cœur» und «Kern», durch die auch eine semantische Nähe suggeriert wird. Klanglich eingespurt durch die Wortreihe «Ei» > «Ereignis» > «Eigens» bildete sich somit eine poetische Parenthese zwischen «Ei» und «Sprung», zu der ein zufällig begegnendes fremdsprachiges Wort den Anstoss gegeben hat: Im winzigsten Ei / wird der Maiglöckchenduft / zum Ereignis. / (Eigens treffen sich / hier Blitz und / Kern zum Sprung.)

y) Im Weitern tritt dann «der einzige Zeuge» hinzu, auch er lautlich wie semantisch aufs Ei bezogen, da immer nur einer aufs Mal via ein Ei zum Erzeuger werden kann. Die Zeugung kann als Urszene im Ei begriffen werden, und «Ur-» als das Uranfängliche hat mit Zeit zu tun, verbindet sich leicht mit dem homophonen Wort «Uhr». Da die Uhr zumeist mit rundem Zifferblatt imaginiert wird, liegt auch der Vergleich mit dem runden «Gesicht» und der runden «Null» nahe: Der einzige Zeuge hebt / die Uhr dicht / vors Gesicht. Da / bleibt sie stehn genau / um Null. Zu früh / und für immer. Wie auch dieses Gedicht; es fand, ohne dass das gesammelte Wortmaterial vollständig genutzt worden wäre, am 9. Juni 2003 zu seiner definitiven Form:

z) Beschwert vom Ursprung, in dem die Zukunft das Vergangene beschwört …

PS

Ob diese kleine Poetik zu verallgemeinern, also über die Wortkunst hinaus geltend zu machen wäre für bildnerische, musikalische Werke auch?
Am ehesten bietet sich dafür naturgemäss die Musik an, die ja, ganz Klanggestalt, ebenfalls sehr weitgehend durch vorgegebne Attraktoren, hier Motive genannt, determiniert ist, und dies, nicht anders als die Dichtung, unabhängig von der formalen Eigenart des jeweiligen Epochen- oder Personalstils – mit dem wesentlichen Unterschied jedoch, dass bei musikalischen Kompositionen keine verifizierbaren Bedeutungen mitlaufen und sich zu Aussagen verdichten, es sei denn, solche Aussagen oder Bedeutungen wären – wie in der «lautmalerischen» Programmmusik – von vornherein beabsichtigt.
Demgegenüber erfordert der Vergleich zwischen Wort- und Bildkunst einen medialen Szenenwechsel insofern, als hier nicht mehr auf ein gemeinsames Kriterium wie den Klang in Dichtung und Musik Bezug genommen werden kann. Die Entsprechung zu den lautlichen Attraktoren im Gedicht oder den klanglichen, also melodischen und rhythmischen Motiven in der Musik findet sich im künstlerischen Bild auf der ganz anders gearteten Ebene visueller Darbietung, und zwar, entweder, im Bereich der dargestellten Gegenständlichkeit (z.B. Vorhangfalten als Attraktoren von Meereswellen oder Hügelketten, die in einem Fensterausschnitt zu sehn sind) oder im Bereich gegenstandsfreier Formgebung (z.B. bestimmte Rundformen, Linienzüge, Farbgebungen, die in unterschiedlicher Ausprägung und wechselseitiger Attraktion miteinander korrespondieren).
Intermediale Analogien dieser Art sind mir besonders anschaulich geworden beim Durchgang durch Max Ernsts Bilderstrecke Une semaine de bonté (Eine Woche zur Güte, 1934), die der Künstler selbst als «Roman» bezeichnet und damit explizit in eine literarische beziehungsweise erzählerische Perspektive gebracht hat. Ich meinerseits hatte eher den Eindruck, eine Sequenz von bildnerischen Gedichten vor mir zu haben – ein Eindruck, der sich naturgemäss dadurch verstärkte, dass ich die Bilder nicht im Museum oder in einer Galerie abschritt, sondern sie in Buchform, vor- und zurückblätternd, Revue passieren liess.
Der von Max Ernst ingeniös collagierte «Roman» steht offenkundig unter dem Formbildungsgesetz von ein paar wenigen Motiven, die als Attraktoren immer wieder neue Formkonstellationen entstehen lassen, so dass trotz des Zusammenschnitts von disparaten Versatzstücken – darunter vorzugsweise Spiegel, Pfützen, Flügel, Namenszüge, Helme, Kruzifixe, Kommoden, Kugeln – der optische Eindruck von Ganzheit und Geschlossenheit sich einstellt. Wo Ernst beispielsweise eine Kugel als formalen Attraktor 
voraussetzt, können dadurch nackte Brüste oder Schulterkuppen, Schädel oder Phiolen, ein Knie oder der Mond angezogen werden, bevor noch klar ist, was dieses Ensemble formähnlicher Gegenstände bedeuten könnte beziehungsweise darstellen sollte.
Besonders eklatant setzt Ernst dieses assoziative Kompositionsverfahren im zweiten, dem Wasser gewidmeten Heft seines Fortsetzungswerks in Szene. Sämtliche Bilder werden hier entweder analog oder kontrastiv aus dem attraktiven Formenbestand der Welle gewonnen; analog dazu treten wallende Röcke, ausladende Vorhangfalten, wehende Wolken, schwebende Rauchschwaden und langes lockiges Frauenhaar in Erscheinung, wozu, anderseits, harte Linien (Tischkanten, Fenstersimse, Türrahmen, Rinnsteine, Kerzen, Geländer u.a.m.) den augenfälligen Kontrast bilden.
So wie im Gedicht die Bedeutung in Funktion und in Abhängigkeit von seinem prosodischen, syntaktischen, grammatischen Bau sich ergibt, stellt sich auch bei den Collagen von Max Ernst – wie bei starken Bildwerken (von Giorgiones Gewitter bis hin zu Klee, Kandinsky, Francis Bacon) überhaupt – keine klar fassbare Bedeutung oder Aussage ein, während gleichzeitig eine bedrängende Sinnfülle sich auftut, die aber nicht mehr dem Willen des Autors, des Künstlers untersteht, die vielmehr dem Gutdünken des Lesers, des Betrachters anvertraut, allerdings auch aufgegeben ist.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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