Biblisch

Aus der Schnorrschen Bilderbibel sind mir aus Kindheitszeiten zwei alttestamentliche Szenen besonders eindrücklich in Erinnerung geblieben. Einmal und erstens die Szene mit Kain und Abel, symmetrisch dargeboten die beiden Altare, die beiden Akteure – links Kain, der bis zu den Knien im schwarzen Qualm seiner Opfergabe steht und hasserfüllt zu seinem Bruder hinüberschaut; rechts also Abel, der lächelnd zum Himmel staunt, wo seine schlohweisse Rauchwolke vom Gottvater wohlwollend in die Arme geschlossen wird. Zum andern die Geschichte von Isaak und Abraham, die ein im Bild ebenfalls dargestellter Engel in dem Augenblick abbricht, da der wuchtige Greis nach langer Bergfahrt seine Pranke zur Schlachtung des halbwüchsigen Sohns erhebt. Mich hat damals weniger der Gott irritiert, der eine solche Tat als Ergebenheitsbeweis verlangt, als vielmehr der Vater Abraham, der kraft seines blinden Glaubens, seines blinden Gehorsams zum vorbildlichen Gottesmann werden konnte. Anderseits ist für mich der Bruderzwist von Kain und Abel die gültige Metapher für Menschliches schlechthin geblieben, für jede Niedertracht wie auch für jegliches Gelingen; dieses hat als Ausnahme zu gelten, während die Niedertracht zur menschlichen Normalität gehört. Weshalb sie denn, wiederum normalerweise, eher verzeihlich ist als das Gelingen; und verwandt fühlen kann man sich ohnehin nur mit Kain.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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