Eigensinn

I

Ob poetisches Schreiben Anpassung von Mitteln an Zwecke erfordert? Ob es eine Wahrheit des Wie gibt oder: Gibt’s eine andre Wahrheit als die der Ideen, die des Gemeinten? Ob auch fürs Gedicht gilt, dass Wirkliches aus (so und nicht anders) Gesagtem hervorgeht – wie der erste und nächste Faustschlag beim Boxen meist als gewalthafte Fortsetzung verbaler Einspurung (Beleidigungen, Provokationen, Drohungen usf.) zu begreifen ist. Wenn grosse Dichtwerke bis ans Ende der Dichtkunst immer «etwas bedeuten», dann deshalb, weil sie über die vom Autor vorgegebne Bedeutung hinaus eine immer wieder andre Sinnbildung zulassen, nämlich das, was der Leser an Eigensinn hinzufügt oder dem Text entgegenhält.

II

Mehr als die Bedeutung, und das gilt wohl immer, sagt die Stimme. Völlig blöd und stinknormal ist der, der zu verstehn glaubt, ohne das Verstandne im Akt des Verstehens hervorgebracht zu haben.

III

Gegen Bedeutung liesse sich sagen, dass Sinn auch dort entstehn kann, wo einer nicht weiss, was er sagt, und selbst dort noch, wo er – oder ich ?–nichts zu sagen weiss.

IV

Nicht nur ist vieles, fast alles bedeutungshaft und damit auf Verständigung angelegt, kommt dazu, dass das Bedeutete, das zu Verstehende für die meisten Zeitgenossen das immer schon Verstandne ist; dass also das Verstehn mehr und mehr zu einem Aha!-Effekt verkommt. Von daher wäre wohl die triviale Tatsache zu erklären, dass auf Bedeutungsentzug, auf Bedeutungsverweigerung gemeinhin so aggressiv reagiert wird.
Wie im Übrigen auch auf Anonymität.
Die Verdunklung der Autorschaft und damit der Entzug der Bedeutungs- und Autoritätsquelle macht die Aussage suspekt, entwertet den Text. Was wäre, beispielsweise nur, aus Bernhards oder Handkes oder Friederike Mayröckers Texten geworden, wenn sie unsigniert beim Verlag eingegangen wären? Hätte man sie gedruckt? Und wären sie, falls in Buchform erschienen, von Publikum  und Kritik beachtet worden? Nein. Noch immer kommt der Autor vor dem Buch, der Klappentext vor dem Text und … aber immer noch trifft zu und bleibt bedenkenswert dieser «schlimme Gedanke» von Paul Valéry: «Das, was ein Werk ausmacht, ist nicht der, der seinen Namen daruntersetzt. Das, was ein Werk ausmacht, hat keinen Namen.»

V

Warum hat man die Rede der Irren so gern und so selbstverständlich für orakelhaft gehalten!

VI

Schreibend finde ich nur Wörter vor; deren Fügung ist’s, was den Text ausmacht, letztlich das Werk und … aber dem steht die gänzlich anders geartete Erwartung der Leser entgegen, zu der Sören Kierkegaard, illusionslos, einst notierte: «Der Autor, der keine Autorität darstellt und nur bei der Geburt der Wahrheit hilft, statt selbst fruchtbar zu sein, hat keine Macht.» Macht wohl nicht! Wozu denn aber? Der Autor sollte vorab zu tun und nicht zu wirken haben.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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