Gedenken

Bei meinem ersten Studienaufenthalt in Moskau, 1965/1966, gehörte der Linguist und Literarhistoriker Boris Gornung zu meinen wissenschaftlichen Betreuern. Ich erinnere mich an ihn als einen schmalen, leicht vornübergebeugten alten Mann mit schlohweissem, erstaunlich fülligem, diskret duftendem Haar. Diese Besonderheit stand in merkwürdigem Kontrast zu Gornungs zurückhaltender, fast abweisender Strenge, die das Gespräch mit ihm schwierig machte und mich mehr und mehr davon abhielt, ihm Fragen – gar persönliche – zu stellen. Ich kannte damals bloss ein paar wenige Aufsätze von ihm, wusste damit aber nicht viel anzufangen; das einzig Auffallende daran war, dass er sich im Unterschied zu seinen akademischen Kollegen nicht an die gängige Praxis hielt, Marx oder Lenin oder irgendein zeitgenössisches ZK-Mitglied als literaturwissenschaftlichen Experten zu zitieren.
Ich konnte Gornung nie als meinen Lehrer betrachten, seine Betreuung war zu distanziert, seine Verschlossenheit liess keine produktive Arbeitssituation aufkommen. Nach Abschluss meines Studienjahrs vergass ich ihn bald, habe auch nie wieder etwas von ihm gehört oder gelesen, bis ich – Jahrzehnte später – durch eine zweibändige Ausgabe seiner Schriften erneut auf ihn aufmerksam wurde.
Nun erst erfuhr ich, dass Boris Gornung in den 1920er Jahren zu den führenden Altphilologen der UdSSR gehört hatte, dass er dem russischen Formalismus wie auch der zeitgenössischen literarischen Avantgarde nahestand, dass er ein enger vertrauter Ossip Mandelstams und auch selbst ein praktizierender Dichter war, darüber hinaus sich einen Namen gemacht hatte als Übersetzer französischer und deutscher Poesie – von Baudelaire und Heine bis hin zu Ernst Toller und André Salmon.
Gornungs eigne Lyrik, gleichermassen geprägt durch die Antike wie durch den europäischen Modernismus, wird nun endlich, ihrem geringen Umfang zum Trotz, als bedeutsamer Beitrag zur 
Dichtung der frühen Sowjetzeit erkennbar. Nichts daran ist allerdings sowjetisch, weder der Form noch der Idee nach; vielmehr bezeugt Gornung mit seinen Gedichten das Festhalten an einer Überlieferung, die in jenen Jahren bereits als «weltfremd» und «volksfern» galt, während sich die sowjetischen Barden für eine kollektive proletarische Kultur engagierten. – Zur Erinnerung an Boris Gornung, den verkannten Lehrer, der 1976 – genauso alt wie das Jahrhundert – in Moskau starb, gebe ich hier eins seiner Gedichte erstmals in deutscher Übersetzung zu lesen.

ZWEITE VARIATION AUF ALTE MOTIVE
für Nina

Der Abend lastet schwer und gibt sich unversöhnlich
Beim Untergehn verletzt die Sonne geltendes Gesetz
Die Farben taumeln durcheinander wie gewöhnlich
Der Glockengruss zur Nacht schallt himmelwärts.

Seht her die ihr die Zeit beherrscht und die Gestirne
Seht was sich unter eurer Macht stumm regt
Die Ebbe steht bevor und herbstlich lose Zwirne
Ranken sich wie Schwalbenschwärme unentwegt

Der Wein wird weich in den schwindenden Kelchen
Noch weicher die Knochen im ermatteten Leib
Nun geht es darum gleich einer Gemse die Felsen
Mit Umsicht zu stürmen im Augenbraun treibt

– verborgener Brand einer schwellenden Ära
Über seichten Flüssen mit schlaffem Wellengang –
Die Kraterglut aus längst vergessener Sphäre
Und wie eine Wand rückt ein Zeitalter an

Schon ragt es souverän über den Deichen
Und blickt von dort in die Tiefe aufs Meer
Das wie eine Zeile unter jambischen Streichen
Erst aufschäumt um dann sich zu fügen dem Vers

aaaaaaaaaa(24. Juni 1926; aus dem Russischen)

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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