Gegenspiel

Nachdem schon bald nach Francis Ponges Tod, 1988, in der Bibliothèque de la Pléïade bei Gallimard seine Gesammelten Werke in zwei umfangreichen Bänden erschienen sind, hat der Verlag inzwischen aus dem Archiv des Autors noch einmal – man ist erstaunt und erfreut – mehrere hundert Druckseiten unveröffentlichter Schriften nachgereicht. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um Vorstudien, Seitenstücke oder eigenständige Varianten zu bereits publizierten Arbeiten, aber auch, zu einem geringeren Teil, um aktualitätsgebundene Gelegenheitstexte, darunter Briefentwürfe, Tagebuchnotate, Lektüreberichte, politische und poetologische Aufzeichnungen, Gedichte und Nachdichtungen aus den Jahren 1917 bis 1982.
Die Gesamtheit dieser Werk- beziehungsweise Werkstattmaterialien vermittelt in ihrer streng chronologischen Darbietung nicht nur höchst bedeutsame, bislang unbekannte Einblicke in Ponges literarische Anfänge, sie erhellen auch seine vielfältigen künstlerischen, wissenschaftlichen, philosophischen und musikalischen Interessen sowie seine späten Versuche, über das eigne Leben und den literaturgeschichtlichen Status des eignen Werks Klarheit zu gewinnen.
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Ponge bereits in seinen frühsten Schreibarbeiten eine intellektuelle Bravour und stilistische Disziplin erreicht, die ihn als werdenden Meister ausweisen – ein verbales «Selbstbildnis» des Achtzehnjährigen, der Erste Ver­such einer Selbstanalyse und ein programmatischer Brief an die Eltern aus dem Jahr 1919 sind Beleg dafür. Bemerkenswert überdies, wie früh und wie souverän Ponge seine schriftstellerische Grundsatzentscheidung für die «Wörter» einerseits, gegen die «Ideen» anderseits zu treffen weiss. Aus seiner «verzweifelten Unfähigkeit, auch nur zwei Ideen miteinander zu verbinden», zieht er schon 1924 die für sein Schreiben fortan gültige Konsequenz: «Der Dichter darf niemals einen Gedanken, er muss einen Ge
genstand vorlegen. Das heisst, er muss den Gedanken dazu bringen, sich als Gegenstand darzubieten.»
Mit dem Gegenstand ist hier (wie bei Ponge nun allenthalben) das Wort gemeint, das sich in seiner Laut- und Schriftgestalt objektiv konkretisiert, ohne eine vorab festgelegte Bedeutung – ein Gemeintes, eine Idee – mitzutragen. Das Wort soll nicht für einen aussersprachlichen Gegenstand («objet») stehen, sondern selbst als rein sprachlicher Gegenstand, als Gegenspiel («objeu») zur konventionellen Wortverwendung fungieren. Das Wort als Gegenstand wäre demzufolge ein Gegenzug zur Idee als Wort.
Der Dichter spricht nicht mehr vermittels von Wörtern, vielmehr bringt er die Wörter dazu, sich selbst auszudrücken («s’exprimer»), sich selbst als Wortdinge zu erzeugen («sexprimer»): «… die Kerze zum Beispiel, was hat sie zu sagen? Nun, ich höre sie mir an und sie spricht sich aus, sie kann sich aussprechen nach allen Varianten, den ‹cadenzas›, die ihr gefallen. Und sie ist entzückt, auf solche Art autorisiert zu sein.» Der Autor gibt seine Autorität an den Gegenstand ab, damit dieser selbst sich als Wortding konstituiere – dem Dichter bleibt die Aufgabe, das Wort hin und her zu wenden, es unentwegt abzufragen nach seiner Her- und Hinkunft, seiner Assonanz- und Assoziationsfähigkeit, es zu bestätigen in seiner sprachdinghaften Präsenz fern aller Repräsentation: «Auf dass jedwedes Wort losgelöst von seiner Bedeutung erscheine oder auch von seinem Gegenstand – kraft der Aufarbeitung seiner strikt sprachlichen Eigenschaften.»
Solche Aufarbeitung lässt Ponge in immer wieder neuen Annäherungen einer langen Reihe disparater Wortdinge angedeihen; dazu gehören nebst anderm «der Zinnkrug», «der Jodtropfen», «die Uhr», «das Fenster», «das Olivenöl» sowie – als Meisterstücke poetischer Vergegenwärtigung – «der Blumenstrauss» und «die Gasbeleuchtung». In einem kurzen poetologischen «Memorandum» vom September  1936  appelliert Ponge an sich selbst: «Schreiten wir voran in der Beschreibung einfacher Dinge. Gehen wir vom einen zum anderen. Mehren wir solchermassen die 
Quantität unserer Qualitäten, bleiben wir auf festem Grund und allzeit entfernt von den Theorien.»
Es versteht sich, dass Francis Ponge unter solchen poetologischen Voraussetzungen die grossen literarischen Formen – Roman, Drama, Epos – ebenso wenig akzeptieren kann wie den Typus des Grossschriftstellers und Meinungsführers. «Wir schreiben weder Prosa noch Poesie», hält er in einer Notiz zur «Theorie und Praxis des Gegenspiels» fest: «Wir praktizieren das Gegen
spiel. Mag man dem Ergebnis einiger unserer Übungen einen literarischen, um nicht zu sagen: dichterischen Wert beimessen … tut nichts zur Sache.» Sich selbst sieht Ponge lediglich als diskreten «Botschafter der stummen Welt» der Gegenstände, die seine «einzige Heimat» sei und der er eine gleichrangige Sprachrealität zuordnen möchte. Die von ihm bevorzugten Textsorten sind, ausser dem Gedicht, die Anekdote, die Fabel, die Glosse, der Aphorismus, der Sinnspruch, der Kalauer, und zu seinen prägenden literarischen Vorbildern gehören denn auch naturgemäss Autoren wie Montaigne und Pascal, Sève und Chamfort, La Fontaine und Boileau, mit denen er geradezu familiär zugange war, wohingegen er sich im zeitgenössischen Literaturbetrieb stets als Einzelgänger, wenn nicht als Fremdling fühlte. «Bin mehr und mehr einsam (unter den Schriftstellern und Künstlern)», notierte er im Mai 1952; und: «Ich desolidarisiere mich mit allen Dichtern.»
Kaum ein Schriftstellerkollege, kaum ein Werk des 20. Jahrhunderts konnte seinen Ansprüchen genügen. Die Surrealisten, denen er vorübergehend nahestand, waren ihm gleichermassen zu dogmatisch, zu romantisch, zu selbstgewiss; Erfolgsautoren wie Proust, Céline, Sartre rubrizierte er als oberflächliche «Publizisten». Wie tief im Übrigen seine Abneigung gegen Jean Paulhan und Albert Camus war, die ihn stets unterstützten und die er öffentlich als seine Freunde bezeichnen durfte, erfährt man, nicht ohne Bestürzung, ebenfalls aus den nachgelassnen Schriften. Und mehr als dies. Man bekommt, auch dies ganz unerwartet, eine thesenhafte Brandrede vom April  1937 zu lesen, in der sich Ponge 
für einen zu Unrecht diffamierten Gewerkschafter stark macht, eine Rede, die ihn damals seine Anstellung beim Verlagshaus Hachette gekostet hat. Gern nimmt man zur Kenntnis, dass literarische Exzellenz und politische Basisarbeit – Francis Ponge war auch im antifaschistischen Widerstand engagiert – einander nicht auszuschliessen brauchen.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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