Gestimmt

Nicht selten bekomme ich nach Lesungen, nach Vorträgen gesagt, man habe mir «gern zugehört», man hätte «noch viel länger zuhören mögen», nicht des Texts, des Themas wegen, sondern «wegen dieser angenehmen Stimme». Nun kann ich tatsächlich immer wieder wahrnehmen, dass man mir, wenn ich rede oder vorlese, interessiert zuhört, und mir ist durchaus klar, dass das Interesse vielmehr dem Sagen als dem Gesagten gilt.
Nachvollziehen kann ich dieses Interesse allerdings nicht, und dass meine Stimme ein Faszinosum sein könnte, ist mir vollends unbegreiflich, wenn ich mich selbst ab Tonkonserve oder im Rundfunk reden höre. Mich selbst?
Diese – meine? – Stimme kommt mir nämlich eher fremd vor, ich empfinde sie als zu hoch, zu schmal, auch mag ich die Intonation insgesamt nicht, und überhaupt ist es mir peinlich, meine Stimme so zu hören, wie sie gehört wird. Es ist, als gäbe ich mir mit jedem ausgesprochnen Wort eine Blösse. Sprechend – aber nicht durch das, was ich sage, vielmehr durch die Art, wie ich mich artikuliere – verrate ich mich. Dafür gibt’s Applaus. Mein Wort wird als verhallendes begriffen.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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