Initiation

Walter Widmer, einst gefeiert, heute weithin gescholten als Übersetzer klassischer französischer Literatur, war einer meiner Lehrer im Basler Realgymnasium. Ich verdanke ihm nicht nur viele produktive Lektüreempfehlungen, er hat mich auch zum Schreiben und Übersetzen gebracht. Der Umgang mit ihm war schwierig, man fürchtete seinen meckernden Zynismus, man belächelte sein unadressiertes Nuscheln, man machte sich lustig über ihn, der als Verfasser unsrer französischen Schulgrammatik keinen Satz in dieser Sprache über die Lippen brachte. Ich mochte den kleinen Mann, aus dessen faltigem Gesicht stets ein Mundstück mit qualmender Zigarette ragte, bewunderte ihn dafür, dass er auch in der überfüllten Strassenbahn stets am Übersetzen war, seinen Villon auf den Knien hielt und zum Rhythmus der Schienenstösse dessen Verse aus dem Grossen Testament ins Deutsche brachte. Ich war wohl 16, 17 Jahre alt, als ich ihn erstmals bat, eine Übersetzung von mir zu «kontrollieren». Widmer lud mich zu sich nach Hause ein, ich sollte ihn vor Schulbeginn in der Früh aufsuchen. Um 6 Uhr kam ich an, er empfing mich in der verrauchten Küche und liess mich ohne weitere Umschweife vorlesen, was ich übersetzt hatte. Es handelte sich um mehrere Poeme von Saint-John Perse, den ich kurz zuvor für mich entdeckt hatte und der sofort zu meinem Lieblingsdichter avanciert war. Nach wenigen Zeilen unterbrach mich Widmer mit dem ärgerlichen Einwurf, dass man «als Übersetzer nicht mit solchen Sachen» anfange, sondern allenfalls damit aufhöre usf. Ohne mein Typoskript «kontrolliert» zu haben, gab er mir den Auftrag, «etwas Passendes, zum Beispiel Maupassant» zu übersetzen, um mich einzuüben, und er gab mir zu bedenken, dass es beim literarischen Übersetzen weniger auf die Kenntnis der Fremdsprache als auf die Beherrschung der eignen Sprache ankomme: «Wenn du übersetzt, egal aus welcher Sprache, musst du vor allem Deutsch können, musst ständig deinen Wortschatz erweitern, sehr viel lesen, es ist nämlich ganz wichtig, auch die Literatur der Zielsprache zu kennen, du kannst keinen Rabelais ins Deutsche übersetzen, ohne den Grimmelshausen genau gelesen zu haben, und auch keinen Saint-John Perse, wenn du deinen Rilke oder Schröder nicht präsent hast.» Damit war die Besprechung beendet; wir fuhren gemeinsam mit der Strassenbahn zur Schule, und ich begann noch am selben Tag, von Maupassant die Erzählung Auf dem Wasser zu übersetzen, fand aber diese Prosa viel schwieriger als die Verskunst von Saint-John Perse und kam auch bald wieder davon ab. Ich ging stattdessen zu Eluard über, versuchte mich an Gedichten von Charles Cros und sogar an Sonetten von Boris Vian; doch diese Versuche legte ich dem Lehrer nicht mehr zur Kontrolle vor, und wenn er mich gelegentlich nach meinen übersetzerischen und literarischen Interessen fragte, sprach ich lieber von den Gedichten, die ich damals selber schrieb und von denen ich ihm hin und wieder eins zu lesen gab; sein einziger Kommentar dazu war: «Weiterschreiben!»

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00