Invasion

Seit heute früh ist mein Küchentisch, auf dem noch die gestrigen Schreibsachen ausgebreitet sind, übersät von winzigen Insekten, die sich als hellgrüne Punkte von knapp einem Millimeter Durchmesser ruckartig, vergleichbar einer Kugel im Flipperkasten, fortbewegen, wobei sie unentwegt die Richtung wechseln. Unvorstellbar, wie die Springer sich auf ihren mikroskopisch kurzen Flimmerbeinchen so rasch über die Tischplatte, über einen Papierbogen oder den Rücken meiner Schreibhand schieben können. Dabei schleifen sie, kommt noch dazu, je zwei vergleichsweise gigantische, golden schimmernde Fühler vor sich her, die drei-, viermal länger sind als ihre stumpfen Körper. Unvorstellbar auch (und als Vorstellung eher verschroben), wie diese wohl kurzlebigen Wesen meine Schriftzüge wahrnehmen. Als breite, vielfach gewundne, für immer eingetrocknete Flussläufe erkenne ich nun, plötzlich wach geworden, die strähnigen Tintenspuren, die sich da auf verstreuten Zetteln vielfach zu Wörtern, zu Sätzen verschlaufen. Mit ihren langen Fühlern tasten die Winzlinge die schwarzen Schriftpfade ab, scheinen aber vor deren Überquerung zurückzuschrecken, rutschen stattdessen den Linien und Kurven nach, als wollten sie mit den wimmelnden Beinen ertasten, was da aufgezeichnet ist. Auch eine Art von Lektüre, und endlich mal ein paar Schritte, die nicht …

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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