Kabbalistisch

I

In seiner grossen Abhandlung über den Namen Gottes und die Sprachtheorien der Kabbala kommt Gershom Scholem wiederholt auf den «Sinn» beziehungsweise die «Bedeutung» sprachlicher Gegebenheiten zu reden, die entweder (sowohl) Mitteilungsfunktion haben oder (als auch) der Sphäre des «Nicht-Mitteilbaren» zugehören. Auffallend ist, dass Scholem die beiden Begriffe – «Sinn», «Bedeutung» – als semantisch und funktional gleichwertig verwendet, mithin synonym verwendet. «Sinn» tritt bald als Apposition von «Bedeutung» auf, bald wird «Bedeutung» als Apposition zu «Sinn» eingesetzt. Bedeutung ist hier einfach «mitteilbarer Sinn», und so kann, muss Scholem vom Namen Gottes mit Bezug auf dessen kabbalistische Auslegungen sagen, er habe «keinen ‹Sinn› im gewöhnlichen Verstande, keine konkrete Bedeutung». Und wieder anderswo wird «Sinn» mit «Form» gekoppelt und solcherart mit «Bedeutung» gleichgesetzt: «Was Bedeutung hat, Sinn und Form, ist nicht dies Wort selber, sondern die Tradition von diesem Worte, seine Vermittlung und Reflexion in der Zeit.»
Es mag erstaunen, sogar irritieren, dass Scholem in einem Reflexionszusammenhang, der Sprache und Sprechen, Namen und Begriffe zum Gegenstand hat, zwischen «Sinn» und «Bedeutung» keinen Unterschied macht. Denn gerade in Bezug auf die vielfältigen kabbalistischen Auslegungen des Gottesnamens drängt sich deren Differenzierung auf. Scholem schreibt: «Das Bedeutungslose des Namens Gottes weist auf seine Stellung im Zentrum der Offenbarung hin, der er zugrunde liegt.» Und er fährt, nunmehr ausschliesslich dem «Sinn» nachhängend, wie folgt fort: «Hinter aller Offenbarung eines Sinnes in der Sprache […] steht dies über den Sinn hinausragende, ihn erst ermöglichende Element, das ohne Sinn zu haben allem anderen Sinn verleiht.» Der Satz ist weniger paradoxal, als wie er sich ausnimmt; es genügt, den hier ausschliesslich verwendeten «Sinn»-Begriff an zwei Stellen durch «Bedeutung» zu ersetzen, um die Aussage plausibel zu machen und ausserdem die beiden Begriffe inhaltlich auseinanderzuhalten: Hinter aller Offenbarung eines Sinns in der Sprache steht dies über die Bedeutung hinausragende, sie erst ermöglichende Element, das ohne Bedeutung zu haben allem andern Sinn verleiht.
In solchem Verständnis ist es richtig und angebracht, den Namen Gottes, wie Scholem es tut, «bedeutungslos» zu nennen; ihn aber als «sinnlos» zu bezeichnen, wäre ganz verfehlt, da die (keineswegs nur durch die Kabbala bezeugte) Sinnfülle des Gottesnamens gerade dessen Bedeutungsleere voraussetzt. Nur dort lässt sich – nach Belieben und jeweils individuell – Sinn machen, Sinn gewinnen, wo keine bestimmte und also die Lesart bestimmende Bedeutung vorgegeben ist, die die subjektive Sinnbildung beeinträchtigt oder gar verhindert. Eine logisch kohärente, inhaltlich konsistente Aussage, wie sie in diskursiven Texten erwünscht und üblich ist, artikuliert in aller Regel eine vorgegebne Bedeutung, die vom Leser – von allen Lesern – erschlossen werden muss und auch eindeutig erschlossen werden kann.
Bei alogischen Texten, wie man sie in vielen Kulturkreisen aus der Mystik, aus der Poesie kennt, gibt es eine solche Bedeutungsvorgabe nicht, im Gegenteil, ihr Bedeutungsgehalt wird so weitgehend minimiert, dass sie im eigenmächtigen Akt der Lektüre oder auch des Hinhörens ein Maximum an Sinn, und zwar an immer wieder anderm, neuem Sinn entfalten können. Deshalb gewinnen starke poetische wie auch mystische Texte mit zunehmendem Alter an Sinn, während diskursives, primär auf Mitteilung, auf Wissensvermittlung, das heisst auf Bedeutungstransfer angelegtes Schrifttum seine aktuelle Geltung über kurz oder lang verliert.
Der Name Gottes schillert folglich nicht, wie es bei Scholem heisst, «in verschiedenen und sich widersprechenden Bedeutungen», er schillert vielmehr – da er, wie Scholem auch sagt, bedeutungsleer ist – in unterschiedlichem und durchaus widersprüchlichem Sinn.

II

Scholems materialreiche Studien zur kabbalistischen Sprachauffassung haben Bedeutung insofern, als sie mehrheitlich eindeuti­ge Wissensdaten vermitteln und somit auch wissenschaftlichen Erkenntniszuwachs ermöglichen. Das schliesst nicht aus, dass diese Studien auch sinnvoll sein, dass sie Sinn generieren können. Voraussetzung dafür wären, auf Leserseite, die Ausblendung der von Scholem festgelegten Bedeutungsperspektive und eine tatsächlich eigensinnige, also rücksichtslose, den Intentionen des Autors zuwiderlaufende Lektüre. Eine derartige Lektüre wäre denkbar unter der willkürlichen Voraussetzung, Scholems einschlägige Texte seien in ihrer Gesamtheit als verkappte poetologi­sche Abhandlungen zu lesen, wobei die Begriffe «Sprachmystik», «Sprachmystiker» oder «sprachmystisch» zu ersetzen wären durch Dichtkunst, Dichter und dichterisch.
Der «Sinn», den dieses spielerische, der geforderten Lesart durchweg inadäquate Verfahren dennoch machen kann, sei hier aufgezeigt am Beispiel eines kurzen Abschnitts aus der erwähnten Studie über den Gottesnamen und die Sprachtheorie der Kabbala, die Gershom Scholem in den dritten Band seiner Judaica aufgenommen hat. Der Abschnitt liest sich, wenn man den entsprechenden Worttausch vorgenommen hat, wie eine konzis gefasste, allgemein geltende Poetik und erfährt dadurch, gegenüber der ursprünglich intendierten Aussage, eine Verfremdung, die den Sinngewinn überhaupt erst ermöglicht, einen Sinngewinn, der schliesslich auf andrer Ebene neue Bedeutung schafft und damit auch neue Deutung verlangt: «Dass ein Ausdrucksloses, das sich nur in Symbolen zeigt, in allem Ausdruck mitschwingt, ihm zugrunde liegt und, wenn ich so sagen darf, durch die Ritzen der Ausdruckswelt hindurchscheint, das ist der gemeinsame Grund aller Dichtkunst und ist zugleich die Erfahrung, aus der sie sich noch in jeder Generation, die unsere nicht ausgeschlossen, genährt und erneuert hat. Der Dichter entdeckt an der Sprache eine Würde, eine ihr immanente Dimension oder, wie man heute sagen würde: etwas an ihrer Struktur, was nicht auf Mitteilung eines Mitteilbaren ausgerichtet ist, sondern vielmehr – und in diesem Paradox gründet ja alle Symbolik – auf Mitteilung eines Nicht-Mitteilbaren, das ausdruckslos in ihr lebt …» Und so fort.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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