Kannitverstan

Ich verstehe kein Türkisch, habe auch keine Vorstellung davon, wie die Turksprachen morphologisch und grammatisch gebaut sind. Dennoch lese ich nun ein Gedicht von Nâzım Hikmet im Originaltext und nehme für mich in Anspruch, es verstanden zu haben, und das heisst in diesem Fall – zu wissen, wie es gemacht ist und wie es funktionieren soll; das Gedicht ist von 1963 datiert und lautet wie folgt:

Vera’ya

Gelsene dedi bana
Kalsana dedi bana
Gülsene dedi bana
Ölsene dedi bana

Geldim
Kaldım
Güldüm
Öldüm

Was an dem zweistrophigen Text zuerst ins Aug springt, dann gleich auch ohrenfällig wird, sind diverse Wiederholungen identischer oder ähnlicher Wörter und Wortelemente. Je viermal kommen in der ersten Strophe die zweisilbigen Wortformen «dedi» und «bana» vor; sie stehn innerhalb jedes Verses jeweils an zweiter und dritter Stelle, wohingegen die erste Stelle auf allen vier Zeilen durch ein dreisilbiges Wort besetzt ist, das in drei Fällen (Verse 1, 3, 4) auf «-sene», in einem Fall (Vers 2) auf «-sana» endet, in jedem Fall aber mit dem Lippenlaut «-l-» an die Vorsilbe anschliesst: «Ge-l-», «Ka-l-», «Gü-l-», «Ö-l-». Die vier Verse sind also lautlich (und auch buchstäblich) weitgehend gleich gebaut, sie unterscheiden sich lediglich durch die leicht variierten Silben an den Versanfängen, von denen drei (Verse 1–3) guttural («g-»/«k-») anlauten und einer (Vers 4) vokalisch («ö-»). – Die zweite Strophe ist offenkundig als eine reduzierte Variante der ersten zu lesen; sie umfasst wiederum vier Verse, die aber ihrerseits nur noch aus einem zweisilbigen Wort bestehn, dessen erste Silbe exakt mit den Anlautsilben in der ersten Strophe übereinstimmt; hier jedoch folgt auf die erste Silbe je zweimal die Endung «-dim» bzw. «-dım» und «-düm», woraus sich zwei identische Reimpaare ergeben. Ausser den dominanten lautlichen Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten bleiben somit als variable Elemente einzig die jeweils ersten Silben aller acht Verse, die aus zwei analogen, lautlich identischen Reihen bestehen: «Gel-», «Kal-», «Gül-», «Öl-»; diese wiederum unterscheiden sich, abgesehn vom Ausfall des gutturalen Anlauts in Vers 4, lediglich durch die Stützvokale «-e-», «-a-», «-ü-», «ö-». Dass durch eben diese wechselnden Vokale auch die Bedeutung der entsprechenden Wörter verändert wird, bestätigt die Interlinearübersetzung, die ich selbst anhand eines Türkisch-deutschen Elementarwörterbuchs erstellen kann:

An Vera

Komm doch sagte sie
Bleib doch sagte sie
Lach doch sagte sie
Stirb doch sagte sie

Ich kam
Ich blieb
Ich lachte
Ich starb

Die dominante Konformität und Statik des Gedichts lässt umso deutlicher die minimalen Abweichungen von den zahlreichen lautlichen Wiederholungen hervortreten und gibt der schlichten Abfolge der schlichten Tätigkeitswörter «kommen», «bleiben», «lachen», «sterben» einen geradezu dramatischen Drive. Im Klangleib des kleinen Gedichts – und noch in dessen Schriftgestalt – ist seine Aussage formal präfiguriert, werden doch die Verse, zum Sterben hin, als rhythmische wie als visuelle Einheiten immer kürzer. Der Autor hätte – so banal es klingen mag – nicht meinen können, was das Gedicht besagt, wenn er nicht vorab die Wörter dafür zur Verfügung gehabt hätte; und wenn nicht diese Wörter selbst, von ihm nach lautlichen und grammatischen Kriterien in die Ordnung des Gedichts gebracht, kraft ihrer sinnlichen Wahrnehmbarkeit bestätigten, was sie als Bedeutung nach sich ziehn.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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