Mehrwert

Nicht nur ein «Mehrer» ist der Autor (im lateinischen Verständnis von auctor), er mindert ja auch beziehungsweise er mehrt auch dadurch, dass er mindert. Denn ausgehend vom zuvor Gelesnen darf er dieses nicht bloss nachschreibend übernehmen (was als Kopie, als Plagiat belangbar wäre), er muss davon sehr viel, das meiste weglassen oder es bis zur Unkenntlichkeit verfremden, um es sich aneignen, es unterm eignen Namen vorlegen zu können. Der Mehrwert jedes neuen Texts besteht weit weniger darin, was er an Neuem bringt, als vielmehr darin, wie viel er aus jenen frühern Texten ausblendet, die seine Grundlage bilden. Noch offensichtlicher wird dieser durch Minderung gewonnene Mehrwert bei der literarischen Übersetzung, die gegenüber dem Originaltext noch so viele Abstriche machen kann oder machen muss und in der Zielsprache gleichwohl reichlich Gewinn bringt. Die Lutherbibel oder Rilkes Eindeutschungen sind Beispiele dafür, wie durch Übersetzungsverluste derartige Gewinne zu erzielen sind.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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