Nett so

So nett, wie’s klingt, ist kein Sonett; der Kalauer stimmt. Die Form, die Struktur des Sonetts gehört, man weiss es, zu den strengern – vierzehn Zeilen, strophisch gebündelt in zwei Quartette und zwei Terzette oder auch (englische Spielart:) in drei Quartette und ein zusätzliches Verspaar; kodifiziert sind nicht nur Metrik und Reim, auch rhetorische Figuren und selbst die Thematik unterliegen rigiden, wiewohl sich wandelnden Regulativen. Jede Idee im Sonett, jedes Bild, letztlich jedes einzelne Wort steht unter mehrfacher Kuratel. Die daraus erwachsenden Zwänge machen das Faszinosum dieser Textsorte aus, die Disziplinierung schafft gleichzeitig Freiraum, weist der Schreibbewegung die Richtung, ist aber auch Anlass zu Abweichungen, zu Variantenbildungen innerhalb des vorgegebnen Rasters. Das Sonett ist Regelwerk und Spielvorlage in einem, vergleichbar, cum grano salis, mit dem Schach-, dem Tennisspiel, wo ebenfalls rigide Regeln vorherrschen, deren Befolgung höchste Konzentration erfordert und die zugleich jene ingeniösen Züge oder Schläge provozieren, von denen der Kodex immer wieder kreativ überboten, somit tatsächlich als Spielraum ausgewiesen wird. Womöglich erklärt sich daraus das Faktum, dass seit jeher so auffallend viele Sonette in Gefangenschaft geschrieben werden – die geschlossne Architektur des Gedichts mag als Entsprechung zur Lagerbaracke oder zur Todeszelle einen poetischen Raum bilden, der nur insoweit ein Freiraum ist, als er entgegen massivster Repression individuell behauptet werden muss. Die meisten Sonette – und der Sonettenkranz vollends – sind in sich selbst rekurrent, Anfang und Ende verschlaufen sich, der einzelne Gedichttext wie auch dessen zyklische Ausfaltung bilden oftmals eine sphärische Struktur, in der die unterschiedlichsten Antagonismen aufgehoben, um nicht zu sagen versöhnt sind. Dies wiederum mag der Grund dafür sein, dass die überwiegende Mehrzahl aller Sonette (man denke bloss an die modellbildenden Dichtungen von Petrarca und Shakespeare) die Liebe und den Tod, will sagen: den Tod und die Liebe zum Gegenstand haben. Dass die hohe Zeit der Sonettdichtung während der Renaissance – allein zwischen 1500 und 1600 wurden im westlichen Europa über 300.000 Sonette gedruckt – mit der Entdeckung des Individuums und den Anfängen der Portraitmalerei zusammenfällt, ist bemerkenswert, wenn auch keineswegs verwunderlich. Das Sonett, so scheint’s, ist das Gedicht schlechthin, und mehr als das – es ist die Textsorte, in der lyrische, erzählerische und dramatische Rede glei­chermassen zur Geltung kommen können.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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